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Internationale Konferenz in Berlin
Festung Europa?

Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich die Einwanderung innerhalb und nach Europa grundlegend gewandelt. Die EU entwickelte ein System der Grenzsicherung, das innere Freizügigkeit mit äußerer Abschottung kombiniert. Das erweist sich aber oft als inhuman und ist immer wieder vom Scheitern bedroht. Eine Konferenz in Berlin beschäftigt sich mit dem Thema.

Von Andreas Beckmann | 18.05.2017
    Scrabblespiel mit den Worten Einwanderungspolitik, Einwanderung, Migration, Asyl, Integration, Europa, Toleranz, Flucht, Leid
    Scrabblespiel mit den Worten Einwanderungspolitik, Einwanderung, Migration, Asyl, Integration, Europa, Toleranz, Flucht, Leid (imago / Steinach)
    Flüchtlingsströme und die Debatten darum verändern Europas Selbst- und Außenbild. Eine Tagung des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam und der Bundeszentrale für Politische Bildung in Berlin reflektiert die Suche nach einer neuen Migrationsordnung, die auch um Fragen einer europäischen Identität kreist.

    Es hat Zeiten gegeben, da war Europa sich einig was seine Migrationsordnung betraf. Jedenfalls das demokratische Europa, das die Europäische Gemeinschaft bildete. Die Grenzen sollten offen sein und Asylsuchende Schutz finden. Es war die Zeit des Kalten Krieges, die in vielerlei Hinsicht eine historische Ausnahmesituation darstellt, betont die Frankfurter Historikerin Angela Siebold.
    "Im Prinzip standen Grenzen immer zur Disposition in Europa, wurden in Frage gestellt durch Kriege oder durch die Nichtanerkennung von Grenzen oder durch Grenzüberschreitungen von Minderheiten. Die Zeit zwischen 1945 und 1989 ist historisch relativ ungewöhnlich, weil sie eben die festen Grenzen definierte und, ja zementierte könnte man fast sagen mit Blick auf die Berliner Mauer."
    Der Eiserne Vorhang im Osten und das Mittelmeer im Süden bildeten nahezu unüberwindliche Hindernisse, die dafür sorgten, dass nur wenige Flüchtlinge Europa erreichten und dass sein Bekenntnis zur Offenheit kaum jemals getestet wurde. In dieser Phase der Stabilität wurde 1985 das Abkommen von Schengen vereinbart.
    "Schengen ist ja als westeuropäisches Binnenprojekt entstanden. Die Idee war, dass in den späten 70er, 80er Jahren die europäische Integration nicht so richtig voranging, die Identifikation der Bürger in Westeuropa mit der Europäischen Gemeinschaft ließ zu wünschen übrig und darauf aufbauend waren es v.a. die französische und die westdeutsche Regierung, die sagten, jetzt müssen wir vorangehen und ein Zeichen setzen, ein sichtbares, für Europa und damit verbunden war eben die Idee des Grenzkontrollabbaus."
    Stufenweise sollten die Länder Europas ihre Schlagbäume abbauen. Den Anfang, so der Plan, würden gemeinsam mit Frankreich und der Bundesrepublik die Beneluxstaaten machen. Doch dann fiel die Berliner Mauer.
    "Diese offenen Grenzen im Osten führten eben nicht dazu, dass im Westen gesagt wurde, jetzt können wir die Grenzen richtig öffnen, sondern eher zur Sorge, was nun passiert, wenn diese feste Grenze im Osten nicht mehr da ist."
    "Wir haben gesehen, dass sich Staaten des globalen Nordens, des Westens, wieder sehr stark abgrenzen und versuchen, den Zugang von irregulärer Wanderung und von Flüchtlingen komplett zu verhindern."
    In Deutschland zum Beispiel, so der Osnabrücker Migrationsforscher Olaf Kleist, wurde 1992 das Asylrecht deutlich verschärft. Wer über ein sicheres Drittland einreiste, und dazu gehörten nun auch die neuen Demokratien in Osteuropa, der konnte dorthin zurückgeschickt werden.
    "Schengen wurde zunächst mal als Reaktion auf den Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs hinausgezögert und fünf, sechs Jahre nicht umgesetzt, bis 1995. Dann wurde im Osten die Schengener Außengrenze errichtet, die lag jetzt zwischen Deutschland und Polen und wurde aus Sicht der ost-mitteleuropäischen Staaten durchaus als neuer Eiserner Vorhang wahrgenommen."
    An der Oder, erzählt Angela Siebold, bildeten sich kilometerlange Staus, in denen Polen stundenlang warten mussten, bis sie zur Grenzkontrolle vorgelassen wurden. Auch wenn ihre Länder sukzessive der EU beitraten, bekamen die Bürger Osteuropas so das Gefühl vermittelt, dass sie nicht wirklich dazugehörten. Innerhalb der EU wurde das Thema Migrationsordnung zusehends zum Streitpunkt. Billige Arbeitskräfte, anfangs aus Polen, später aus Rumänien und Bulgarien, wurden im Westen zur Bedrohung stilisiert. Doch dann gelang ihre Integration in die Arbeitsmärkte erstaunlich reibungslos.
    Unterdessen kam zum Schengen-Vertrag das Dubliner Abkommen hinzu. Die Grenzsicherung im Süden wurde zur jeweiligen nationalen Aufgabe der Mittelmeer-Anrainerstaaten erklärt, also in erster Linie von Spanien, Italien und Griechenland. Sie sollten ankommenden Flüchtlingen ein rechtsstaatliches Anhörungsverfahren garantieren und sie an der Weiterreise nach Norden hindern. Doch spätestens seit dem Arabischen Frühling und den ihm folgenden Bürgerkriegen zeichnete sich ab, dass sie damit überfordert sein würden, stellt Sabine Hess fest, Professorin für Kulturanthropologie an der Universität Göttingen.
    "Zum einen war klar, dass ltalien massiv unter Druck kam, dass aber das Dublin-System ja sagt, dass die ersten Staaten die Asylanträge durchführen müssen und natürlich auch irgendwo eine soziale Infrastruktur herstellen müssen. Und es war dann klar im Rahmen verschiedener Gerichtsprozesse, dass 2011 Griechenland schon aus dem Dublin-System rausgebootet wurde durch ein Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichthofs und dass diese Länder eigentlich kein dem Europäischen Asylrecht entsprechendes Asylsystem haben."
    Immer mehr Flüchtlinge entzogen sich der Registrierung in den Erstaufnahmeländern und zogen weiter über die Alpen. Weil sich ihr Fluchtweg kaum mehr rekonstruieren ließ, konnten die meisten nicht wieder abgeschoben werden. Ganz langsam begannen daraufhin in allen EU-Ländern Debatten, wie man Migration auf eine andere Art steuern könnte, berichtet der Osnabrücker Politologe Olaf Kleist.
    "Das eine ist, dass Staaten einen stärker selektiven Zugang organisieren, dass sie sich nicht mehr komplett abzuschotten, sondern versuchen zu bestimmen, wer Flüchtlingsschutz bekommen kann und wer nicht. Der zweite Trend ist, dass Migrationsrechte gestärkt werden, aber dafür Flüchtlingsrechte abgebaut werden. Flüchtlingsrechte betreffen Personen, die politisch verfolgt sind, für die eine Rückkehr unmöglich ist, weil sie in ihrer Herkunftsregion vertrieben wurden."
    Wer politisch verfolgt wird, muss aus humanitären Gründen aufgenommen werden. Das schreiben etwa die UN-Menschenrechtserklärung und die Genfer Konvention vor. Die Staaten Europas wollen aber selbst bestimmen, wen sie einwandern lassen. Quotensysteme etwa könnten dafür sorgen, dass vor allem Menschen kommen, die auf dem Arbeitsmarkt gebraucht werden. Doch es gibt auch humanitäre Gründe, über die klassische Asylrechtspraxis nachzudenken. Denn es nicht leicht zu erklären, warum ein Mensch Schutz finden soll, dem der Tod durch Folter droht, ein anderer, dem der Tod durch Verhungern droht, aber nicht.
    "Es ist aber schwer auseinander zu halten, ob jemand aus politischen Gründen kommt oder aus wirtschaftlichen. Flüchtlinge aus Somalia können wegen einer Hungerkatastrophe kommen, die aber Resultat ist von einem Bürgerkrieg und politischer Verfolgung."
    Bevor Europas Debatten über eine neue Migrationsordnung ein Ergebnis zeitigen konnten, kam der August 2015, den die einen den "Sommer der Migration" nennen und die anderen "die Flüchtlingskrise". Die Bundesrepublik setzte das Dublin-Abkommen zeitweilig außer Kraft und nahm erstmal alle, die kamen, auf. Angela Merkels berühmter Satz "Wir schaffen das" war nicht nur Ausdruck deutschen Selbstbewusstseins, sondern auch in der Hoffnung gesagt, andere Länder würden sich ebenfalls öffnen. Doch nachdem Berlin die Mittelmeeranrainer lange mit ihren Problemen allein gelassen hatte, erfuhr jetzt die Bundesrepublik wenig Solidarität. Der Hochphase der Willkommenskultur folgte bald eine rigorose Abschottungspolitik. Die zeigt sich besonders augenfällig entlang der sogenannten Balkanroute, erzählt Sabine Hess.
    "In der Tat ist die Metaphorik des Eisernen Vorhangs durchaus aufzugreifen, wenn man an dem ungarischen Zaun steht, der durch einem massiven Einsatz von Militär und mit Hunden nur verteidigt werden kann, weil in jeden Zaun können Löcher geschnitten werden. D.h. es muss ein massiver Einsatz von Manpower dahinter stehen und von Technologie, es ist unglaublich."
    So bietet Europa der Welt derzeit ein hässliches Bild, findet Bashshar Haydar, der an der Amerikanischen Universität in Beirut Moralphilosophie lehrt. Dabei sei die Einwanderungspolitik des Kontinents, von außen betrachtet, doch eigentlich eine Erfolgsgeschichte.
    "Die Eingliederung von Millionen türkischer Gastarbeiter und ihrer Kinder und Enkel ist doch gelungen. Sie wohnen Tür an Tür mit alteingesessenen Nachbarn, sie wählen in ihrer überwältigenden Mehrheit keine extremistischen Parteien und die meisten haben Arbeit und nehmen so am wirtschaftlichen Leben teil."
    Wenn es jetzt darum gehe, syrische Flüchtlinge zu integrieren, seien die Voraussetzungen sogar noch besser als in den 60er Jahren bei den Arbeitsmigranten, so Bashshar Haydar.
    "Die syrischen Einwanderer sind ja nicht mehrheitlich einfache Bauern, die vielleicht nie zur Schule gegangen sind. Unter ihnen sind viele gebildete Leute, die als Stimme der Neuankömmlinge fungieren und eine Brücke zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Flüchtlingen bilden können."
    Nicht nur aus Syrien, sondern generell kommen zunehmend Menschen nach Europa, die in ihrer alten Heimat zum Mittelstand gehörten. Weil sie oft eine Ausbildung haben und manchmal auch Berufserfahrung, sind sie sozial flexibler als Armutsflüchtlinge und integrieren sich entsprechend schneller, wenn sie die Chance dazu bekommen. Allerdings können viele von ihnen keine Asylgründe im klassischen Sinne geltend machen. Das, so Olaf Kleist, müsse Europa bei der Suche nach einer neuen Migrationsordnung beachten
    "Wir müssen auch über Klimaflüchtlinge diskutieren, die nicht unter die Genfer Konvention fallen. Aber das darf nicht zu Lasten politisch Verfolgter gehen und das passiert gerade."
    Denn immer weniger Asylsuchende bekommen überhaupt eine Chance, in Europa einen Antrag zu stellen. Dazu trägt vor allem das Abkommen bei, das die EU und die Türkei im März 2016 geschlossen haben. Als Gegenleistung für politische und finanzielle Zugeständnisse hat sich Präsident Erdogan darin verpflichtet, Flüchtlinge an der Überfahrt auf griechische Inseln zu hindern. Aber, sagt Sabine Hess, niemand weiß, wie lange er an diesem Deal festhält.
    "Interessanterweise ist der Deal wahnsinnig stabil. Eigentlich haben alle Menschen, auch staatsnahe Menschen in der Türkei, uns gesagt, dass der Deal sofort zusammenbrechen wird, weil Erdogan keine Lust daran hat, ein stabiles Europa zu haben. Andererseits müssen wir jetzt sehen, dass Erdogan scheinbar gerade durch den Deal und die Fragilität des Deals viel Macht in der Hand hat. Dem Erdogan nutzt ein Deal in diesem fragilen Zustand mehr, als ihn aufzukündigen."
    Würde er das Abkommen platzen lassen, könnte die EU ihre Zurückhaltung angesichts des Abbaus demokratischer Rechte in der Türkei ablegen und Erdogan müsste vielleicht Sanktionen fürchten. Doch auch wenn das EU-Türkei-Abkommen derzeit funktioniert, glaubt Sabine Hess nicht, dass es als Blaupause für eine neue Migrationsordnung Europas dienen kann.
    "Es ist nur eine Frage der Zeit, meiner Meinung nach, bis sich die Bewegungen wieder woandershin verlagern. Rumänien wird gerade ausprobiert. Natürlich gibt es immer wieder temporäre Stabilisierungen, aber z.B Gibraltar, die Meerenge zwischen Marokko und Spanien ist über Jahre abgedichtet worden und jetzt sehen wir, dass dort wieder vermehrt Boote loslegen. Die zentrale Mittelmeerküste ist nach wie vor offen, obwohl EU und Frontex massiv vertreten sind."
    Nach dem Vorbild des Abkommens mit der Türkei hat deshalb Italien, mit Rückendeckung der EU, im Februar mit der Regierung von Libyen ein Memorandum vereinbart.
    "Dieses Memorandum sieht vor, dass Europa Libyen Geld gibt für die Stärkung seiner Küstenwache und den Aufbau von Aufnahmezentren. Ob das aber jemals so funktionieren kann wie in der Türkei, erscheint äußerst fragwürdig, denn der Regierungschef von Libyen wird in seinem eigenen Land als "Bürgermeister von Tripolis" verspottet, weil er kaum mehr als die Hauptstadt kontrolliert und nicht einmal dort vor Anschlägen sicher ist."
    Der italienische Anthropologe Maurizio Albahari, der an der University of Notre Dame in Indiana lehrt, hält ein Flüchtlingsabkommen der EU mit Libyen selbst dann für unvertretbar, wenn der Bürgerkrieg in dem nordafrikanischen Land irgendwann einmal enden sollte.
    "Die Migranten werden in provisorischen Lagern zusammengepfercht, die entweder von korrupten Beamten geleitet oder von Milizen betrieben werden, die mit Drogenringen und Terrornetzwerken zusammenarbeiten. Nach UN-Angaben kommt es dort immer wieder zu Folterungen, zu sexuellem Missbrauch und zu Morden."
    Sollte die EU die Umsetzung des Memorandums mit der libyschen Regierung tatsächlich weiter verfolgen, dann würde sie ihre neue Migrationsordnung in einem ganz wesentlichen Punkt faktisch von der Kooperationsbereitschaft von Banden- und Clanchefs abhängig machen, bilanziert Maurizio Albahari. Dies wäre umso tragischer, ergänzt Olaf Kleist, als der Kontinent im Innern heute viel besser auf Einwanderung vorbereitet sei als früher.
    "Ich sehe einen Trend, den wir nicht nur in Deutschland oder Europa, sondern weltweit beobachten können, dass sich die Zivilgesellschaft stärker um die Aufnahme und den Schutz mit kümmert. Ich denke, das ist ein Trend, den wir sehr begrüßen sollten, aber wir sehen die Gefahr, dass der Staat sich dann in gewisser Weise zurückzieht und versucht, die Aufgabe des Flüchtlingsschutzes dann der Zivilgesellschaft zu übergeben. So gibt es bspw. in Kanada ein Sponsoring, wo man für die Aufnahme von Flüchtlingen bezahlen kann und der Staat sich aus dieser Verantwortung herauszieht. Aber wenn der Staat sich zurückzieht, dann kann nicht mehr das volle Flüchtlingsrecht und der volle Flüchtlingsschutz gewährt werden. Wir brauchen das Zusammenwirken."
    Doch angesichts allerorts erstarkender rechtpopulistischer Bewegungen setzen viele Regierungen derzeit demonstrativ auf Härte. Nach außen sind Europas Grenzen gesichert wie lange nicht mehr und selbst an vielen Binnengrenzen in der EU wurden wieder Kontrollen eingeführt. Das Abkommen von Schengen, einst konzipiert als Symbol der Freiheit, ist derzeit an vielen Stellen praktisch außer Kraft gesetzt.
    "Nichtsdestotrotz denke ich, dass die Erfahrung der Freizügigkeit nach innen eine Erfahrung ist, die für die junge Generation fast als selbstverständlich gilt, aber eben doch nicht selbstverständlich ist. Ich denke, diese Erfahrung der Freizügigkeit ist etwas, das die Westeuropäer und Europäerinnen näher zusammen gebracht hat."
    Wenn Europa seine Identität wahren wolle, müsse es einen Weg finden zurück zu offenen Grenzen im Innern und kontrollierter, aber großzügiger Aufnahmebereitschaft nach außen, hofft die Frankfurter Historikerin Angela Siebold. Nur so könne es jenes freiheitliche Europa bleiben, dass seine Bewohner in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg schätzen gelernt haben.