Donnerstag, 28. März 2024

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Internationale Strafjustiz
Erklärungsmuster staatlich organisierter Gewalt

Die transnational geführten Debatten über deutsche staatliche Gewalt durchzogen das gesamte 20. Jahrhundert. Die Historikerin Annette Weinke zeigt in ihrem Buch " Gewalt, Geschichte, Gerechtigkeit", wie sich rechtliche, historische und moralische Erklärungsmuster gegenseitig beeinflussen - und setzt neue Impulse für die Erforschung des humanitären Völkerrechts.

Von Annette Wilmes | 22.08.2016
    Ein deutscher Soldat in einem Schützengraben vor Ypern am 24. April 1915.
    Ausführlich befasst sich die Historikerin mit der "Kriegs-Unschuld-Forschung" nach dem Ersten Weltkrieg. (picture alliance / dpa)
    Bis Mitte der 90er-Jahre war die Geschichte des humanitären Völkerrechts eine Domäne der Rechtswissenschaft und der Politikwissenschaft. Dort wurde zwar auch historisch geforscht, aber dieses historische Verständnis war sehr gegenwarts- und anwendungsbezogen. Ein Problem für die Geschichtswissenschaft, meint Annette Weinke:
    "Man spricht in gewisser Weise von einer Verrechtlichung von Geschichte. Das ist ein Phänomen, das sich zurückverfolgen lässt in das späte 19. Jahrhundert. Und dieses Phänomen verstärkt sich dann noch mal nach dem Ersten Weltkrieg."
    Die internationale Auseinandersetzung mit dem Phänomen staatlich organisierter Gewalt im 20. Jahrhundert wird oft erzählt als eine mehr oder weniger gradlinige Entwicklung des humanitären Völkerrechts, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts mit der Gründung des Instituts für internationales Recht in Gent begann. Eine zweite Erzählweise konzentriert sich auf den transnationalen Menschenrechts-Aktivismus nicht staatlicher Organisationen und eine transnational verstandene "Moralpolitik".
    Annette Weinke hat sich für eine dritte Erzählvariante in ihrer Studie entschieden, sie ergänzt die beiden Ansätze durch einen kulturgeschichtlich orientierten Blick.
    "Diesem Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass sich die fortschreitende Kriminalisierung von Staatsunrecht nicht in der Kodifizierung von Normen erschöpfte, sondern dass die Einigung auf bestimmte Normen ein umkämpftes Terrain politischer, gesellschaftlicher und kultureller Aushandlungsprozesse darstellte."
    Ruf nach einer völkerrechtlichen Bestrafung der Verantwortlichen
    Diese Aushandlungsprozesse fanden zum Beispiel im Ersten Weltkrieg statt. Die Kriegsgräuel, unter denen auch die Zivilbevölkerung immer mehr litt, die Kriegsverbrechen der Deutschen in Belgien, die Zerstörung belgischer und französischer Städte, lösten schon zu Beginn des Krieges den Ruf nach einer völkerrechtlichen Bestrafung der Verantwortlichen aus.
    "Interessant ist dabei auch, dass man sich mehr und mehr schon dafür interessiert, die Perspektive der Opfer zu dokumentieren. Und es wird versucht, deren Erzählungen einfließen zu lassen in diese Dokumentationen."
    Die transnational geführten Debatten über deutsche staatliche Gewalt durchzogen das gesamte 20. Jahrhundert. Die Haager Friedenskonferenzen, der Erste Weltkrieg, das Zustandekommen des Versailler Vertrags, der Zweite Weltkrieg und die Nürnberger Prozesse, deren Wirkung auf die Bonner Republik und schließlich der Umgang mit den Staatsverbrechen der DDR nach dem Ende des Kalten Krieges sind Gegenstand von Annette Weinkes Untersuchungen. Die einzelnen Ereignisse sind hinlänglich bekannt. Aber durch die besondere Vorgehensweise von Annette Weinke erscheinen manche Dinge im neuen Licht. Denn sie analysiert anhand der Debatten, wie sich rechtliche, historische und moralische Erklärungsmuster gegenseitig beeinflussen. Ausführlich befasst sie sich mit der "Kriegs-Unschuld-Forschung" nach dem Ersten Weltkrieg.
    "Es gab dort im Umkreis des deutschen Soziologen oder Großsoziologen Max Weber eine Vereinigung 'Politik des Rechts', die auch in Heidelberg ansässig war, die sich im Hause Max Webers getroffen haben und diese Vereinigung hat, man muss sagen, gewissermaßen als eine moderne NGO gearbeitet. Sie war eine Gruppierung, die versucht hat, die internationale Öffentlichkeit vom deutschen Rechtsstandpunkt zu überzeugen."
    Es sind vor allem solche Expertennetzwerke und Lobby-Gruppen, die Annette Weinke interessieren. Es gab auch im Zweiten Weltkrieg sogenannte Thinktanks, initiiert vor allem von jüdischen Emigranten, die aus Deutschland oder osteuropäischen Ländern in die USA gekommen waren. Einer von ihnen war zum Beispiel Raphael Lemkin aus Polen, Jurist und Friedensforscher, der den Begriff des Genozids prägte und im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess dem Hauptanklagevertreter der Vereinigten Staaten, Robert H. Jackson, assistierte.
    "Die Stoßrichtung, die Argumentation dieser Expertisen, die da während des Zweiten Weltkrieges entstanden sind, sind sehr stark beeinflusst von dieser Zwitterstellung, Wissenschaft, Rechtspolitik."
    Deutschland wandelt sich vom Objekt zum Subjekt
    Annette Weinke benutzt teilweise Archivquellen, aber überwiegend schöpft sie aus publizierten Texten der Akteure, die die Debatten führten. Das sind öffentliche Aufrufe, Memoranden, Denkschriften, aber auch Standardwerke. Hannah Arendts "Eichmann in Jerusalem" findet sich genauso in der sehr ausführlichen Literaturliste wie Franz Leopold Neumanns "Behemoth".
    Dem Konzept der Transitional Justice schließlich widmet Weinke im letzten Kapitel ein besonderes Augenmerk. Das Konzept, das den Übergang von einer Diktatur in die Demokratie begleitet, war ursprünglich bereits in den politischen Umbruchprozessen in Mittel- und Südamerika entstanden und verband menschenrechtlichen Aktivismus mit wissenschaftlicher Politikberatung. Es spielte auch in den postkommunistischen Staaten eine Rolle, auch in Deutschland. Allerdings, heißt es im Buch, blieb die Diktaturaufarbeitung "eine Domäne der juristischen Experten".
    "Erst als die Grenzen dieses Ansatzes immer stärker sichtbar wurden, griff die Politik verstärkt auch auf nichtrechtliche Instrumente zurück. So wurden 1992 und erneut 1995 Enquete-Kommissionen beim Deutschen Bundestag eingerichtet, die sich vordergründig an den Modellen der lateinamerikanischen und südafrikanischen Wahrheitskommissionen orientierten. Vor allem die erste Kommission zeichnete sich dadurch aus, dass sie ihre Tätigkeit durch rhetorische Referenzen an die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft zu legitimieren suchte."
    Deutschland, konstatiert Annette Weinke zum Schluss ihrer kompakten Studie, hat sich am Ende des 20. Jahrhunderts vom Objekt zum Subjekt internationaler Strafjustiz gewandelt und sich für die Gründung eines permanenten Internationalen Strafgerichtshof eingesetzt.
    "Auch diese bemerkenswerte Teiletappe des langen deutschen Weges von Den Haag nach Den Haag wird eines Tages genauer auszuleuchten sein, wenn man den Brüchen und Kontinuitäten des 20. Jahrhunderts auf die Spur kommen will."
    Annette Weinke: "Gewalt, Geschichte, Gerechtigkeit - Transnationale Debatten über deutsche Staatsverbrechen im 20. Jahrhundert"
    Wallstein Verlag Göttingen, 2016, 372 Seiten, 34,90 Euro.