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Internationale Ursachenkette

In den letzten Jahrzehnten herrschte weitgehend Konsens, dass das Deutsche Kaiserreich 1914 das "schwarze Schaf" unter den europäischen Mächten war - als Hauptverantwortlicher für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Der renommierte Historiker Christopher Clark kommt jetzt in seiner Studie "Die Schlafwandler" zu einer neuen Einschätzung.

Von Otto Langels | 09.09.2013
    "Am Morgen des 28. Juni 1914, einem Sonntag, trafen Erzherzog Franz Ferdinand, der habsburgische Thronerbe, und seine Frau Sophie mit dem Zug in der Stadt Sarajevo ein und bestiegen ein Automobil mit zurückgeschlagenem Verdeck. Sieben in zwei Zellen organisierte Terroristen versammelten sich in den Tagen vor dem Besuch in der Stadt. Am Morgen der Ankunft stellten sie sich in Abständen entlang der Fahrtroute auf. Um die Hüfte hatten sie sich Bomben gebunden. In ihren Taschen steckten geladene Pistolen. Die offiziellen Sicherheitsvorkehrungen glänzten durch Abwesenheit."

    Mit diesen Sätzen beginnt Christopher Clark den dritten und letzten Teil seines vorzüglichen Werkes über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Warum, so ließe sich fragen, erscheint ein neues Buch zu einem Ereignis, zu dem bereits eine unübersehbare Flut von Publikationen vorliegt. Clark selber verweist auf ein Meer von Quellen sowie 25.000 Bücher und Artikel zum Thema. Nun nehmen Verlage und Autoren einen runden Jahrestag gerne zum Anlass, weitere Darstellungen auf den Markt zu bringen, der Erkenntnisgewinn ist jedoch zumeist überschaubar. Der in Australien geborene und in England lehrende Christopher Clark will jedoch den bisherigen Interpretationen der Kriegsursachen eine neue Sichtweise hinzuzufügen:

    "Bei diesem Buch habe ich die Frage, die oftmals gestellt wird - warum kam es zu diesem Krieg? - leicht geändert und stattdessen die Frage gestellt: Wie kam es zu diesem Krieg? Indem man die Frage 'warum' stellt, deutet man auf einen Schuldigen, man sucht einen Schuldigen, man rastert dann sozusagen eine Liste der Verstöße eines bestimmten Staates. Das wollte ich eben nicht machen, ich wollte zuerst die internationale Ursachenkette verstehen, die diesen Krieg herbeigeführt hat. Und erst dann die Frage stellen, wer trägt die Verantwortung für das Ergebnis, für den Krieg selbst."

    Christopher Clark widerspricht der gängigen These, wonach das Deutsche Reich und seine Bündnispartner für den Ausbruch des Krieges politisch und moralisch verantwortlich gewesen seien. Eine Verantwortung, die den Deutschen nach Ende des Krieges im Versailler Vertrag zugeschrieben wurde. In den 1960er-Jahren sorgte die Frage nach der Hauptschuld Deutschlands in der sogenannten Fischer-Kontroverse für heftige wissenschaftliche Auseinandersetzungen. Historiker wie Fritz Fischer, Immanuel Geiss und andere vertraten die Ansicht, dass Wilhelm II. sowie seine Minister und Diplomaten nicht in den Krieg hineingeschlittert seien, sondern ihn bewusst geplant hätten, um nach der berühmt-berüchtigten "Weltmacht zu greifen".

    Ergebnis einer gemeinsamen politischen Kultur
    Clark will die kriegerische und imperialistische Paranoia der deutschen Politiker nicht kleinreden, aber die Deutschen, so der Autor, waren nicht die einzigen Imperialisten und Paranoiker. Die Krise, die zum Krieg führte, sei die Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur gewesen. Alle Großmächte hätten sich bedroht gefühlt und deshalb ihre Rüstungsanstrengungen ins Unermessliche gesteigert:

    "Es gehört zu der paradoxen Logik des internationalen Systems im Jahre 1914, dass jeder der Staatsmänner, die damals gehandelt haben, die damals die Entscheidungen getroffen haben, gemeint hat, handeln zu müssen. Das heißt jeder hat gemeint, der Krieg ist mir aufgezwungen worden, das heißt dass ich versucht habe, die Entscheidungspositionen der Staatsmänner, der Entscheidungsträger möglichst verständlich zu machen. Und dadurch bin ich eben nicht zu einer Wiederholung der alten deutschen Kriegsschuldthese gekommen, sondern zu einem Argument, in dem alle europäischen Großmächte und auch die Balkanstaaten eine Mitverantwortung tragen an dem Ausbruch dieses Krieges."

    Der Autor hat die Quellen und die Literatur in den Sprachen der wichtigsten Akteure ausgewertet. Auf dieser fundierten Basis entwickelt er seine Argumentationskette, dass nicht allein die aggressive Politik des Deutschen Kaiserreiches für die Zuspitzung der Lage sorgte. Die Kriege und Krisen auf der Balkanhalbinsel hatten Anfang des 20. Jahrhunderts eine bedrohliche geopolitische Dimension angenommen, sodass nicht rein zufällig Sarajevo Schauplatz des Attentats auf Erzherzog Franz Ferdinand wurde. Und der Mord das ganze europäische Bündnissystem explodieren ließ.

    Allerdings verlässt Clark den historischen Rahmen und begibt sich ins Reich der Spekulation, wenn er einen Bogen vom serbischen Nationalismus der Vorkriegszeit zu Srebrenica und der Belagerung von Sarajevo in den 1990er-Jahren spannt. Frankreich, so der Autor, provozierte in den Marokkokrisen von 1905 und 1911 unnötig das Deutsche Reich. Russland löste mit der Mobilmachung im Juli 1914 entsprechende Gegenreaktionen in Berlin aus, und in London amtierte ein Schlafwandler par excellence als Außenminister, der lieber Vögel beobachtete oder fischen ging, als sich um diplomatische Vermittlungen zu bemühen.

    "In dieser Geschichte gibt es keine Tatwaffe als unwiderlegbaren Beweis oder genauer: Es gibt sie in der Hand jedes einzelnen wichtigen Akteurs. So gesehen war der Kriegsausbruch eine Tragödie, kein Verbrechen. Eines liegt auf der Hand: Kein einziges der Anliegen, für die die Politiker von 1914 stritten, war die darauffolgende Katastrophe wert."


    Monarchen als Schlafwandler
    Die verantwortlichen Monarchen und Staatsmänner vermochten die Folgen und Risiken ihres Handelns nur unzureichend abzuschätzen, auch das macht sie in den Augen von Christopher Clark zu Schlafwandlern. Getragen von der Erwartung eines kurzen, erfolgreichen Militärschlags ohne größere eigene Verluste, ignorierten sie mahnende Stimmen. Statt Weihnachten wieder zu Hause zu sein, wie führende Militärs versprachen, verbrachten die Soldaten Jahre in den Schützengräben und krepierten auf den Schlachtfeldern.

    Christopher Clark betont in seiner glänzend geschriebenen Darstellung, dass er keinen banalen Gegenwartsbezug herstellen möchte. Aber die Parallelen zwischen 1914 und der Gegenwart sind bisweilen ebenso verblüffend wie beunruhigend: Die Krise von 1914 war derart komplex, dass es zu undurchsichtigen Entscheidungsprozessen und widersprüchlichen Reaktionen mit katastrophalen Folgen kam. Tauchten in der Finanzkrise 2011 nicht ähnliche Schreckensszenarien auf? Und: Das Attentat von Sarajewo wurde von einem extraterritorialen Selbstmordkommando verübt, das einen Todes-, Opfer- und Rachekult pflegte. Ein einziges symbolträchtiges Ereignis konnte die Weltpolitik unwiderruflich verändern - wie die Anschläge auf das World Trade Center im September 2001.

    Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog
    Deutsche Verlags-Anstalt, 896 Seiten, 39,99 Euro
    ISBN: 978-3-421-04359-7