Dienstag, 19. März 2024

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Inventur und Neustart (3/3)
Was die Schule der Zukunft leisten sollte

Corona hat den digitalen Innovationsdruck in der Bildung verdeutlicht. Zudem sind neue Konzepte gefragt, um die kommenden Generationen auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten. Es braucht eine Schule, die Leidenschaft und Engagement zündet, um notwendige Veränderungen zu gestalten.

Von Matthias Greffrath | 27.06.2021
Mädchen schaut mit einem Fernglas in die Zukunft.
Was muss eine Schule leisten, die kommende Generationen darauf vorbereitet, die Klimakrise zu moderieren, die Weltwirtschaft neu zu ordnen? (picture alliance / Zoonar / Aleksandr Khakimullin)
"Nach der Pandemie braucht es eine Bildungsrevolution", fordert die Politikerin, "Neustart Schule" der Philosoph; "Lasst uns Zukunft in die Schule bringen" steht auf den Plakaten einer Bürgerinitiative, die für ein "Update des Schulsystems" plädiert. Gesellschaftliche Erschütterungen sind immer begleitet von Umbrüchen im System der öffentlichen Erziehung.

Inventur und Neustart

Eine Reihe in drei Teilen

Bildungsschock – so heißt die aktuelle Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Sie blickt zurück: auf Schulstreiks und Universitätsbesetzungen in den 70er-Jahren. Broschüren, Flugblätter, Bilder und Tonaufnahmen künden davon, dass soziale Bewegung und Veränderung der Schule immer Hand in Hand gehen. Und manchmal ganz direkt - und subversiv.

Unwissen füttert die Angst

So wie in dem Film, der eine Gruppe von Jungen und Mädchen zeigt, die durch ein Mangrovenwirrsal klettern. Jeder sucht sich einen Platz auf einer der Wasserwurzeln, sie holen Stifte und Papier heraus, sie schreiben, sie malen, sie lachen. Sie lernen. Oder spielen sie Schule – in dem Wald am Ozeanrand, in dem ihre Großeltern das Alphabet gelernt haben, versteckt vor den Bombern der Kolonialmacht, oft mit den Füßen im Wasser, während des Befreiungskrieges gegen Portugal. "Der schwerste Kampf ist der gegen Unwissen", so spricht, auf einem Archiv-Clip aus dem Jahr 1969 der antikoloniale Guerillero Amílcar Cabral zu einer Versammlung von Lehrern, "und deshalb seid Ihr Kämpfer für die Freiheit des Landes". Denn Unwissen füttere die Angst: Angst vor Donner und Blitz, vor Überschwemmungen und dunklen Mächten, vor Hexen und Heilern, vor Soldaten und vor der Zukunft. Zehn Jahre lernten Kinder in diesen Mangrovenwald-Schulen in Guinea-Bissau, von Ebbe und Flut des Atlantik umspült, versteckt vor den Bomben, das Alphabet und Arithmetik, verbanden sich, Welterklärung, Emanzipationswissen und der praktische Kampf gegen die portugiesischen Kolonialherren.
"Wenn die Schule einen Sinn haben soll", schreibt Neil Postman, der große Soziologe der Kindheit, der Medien und der Erziehung, "dann müssen die Schüler, ihre Eltern und ihre Lehrer einen Gott haben, dem sie dienen können, oder, besser noch, mehrere Götter. Wenn sie keine haben, ist die Schule mit Sicherheit auf dem Weg an ihr Ende."
Überlegungen zur Zukunft des Staates
Ob Klimakrise oder Globalisierung: Die Corona-Pandemie hat gleich mehrere Problemfelder offenbart. Neue, zukunftsträchtige Modelle müssen her. So bedarf etwa der bröckelnde Nationalstaat einer grundlegenden Neuordnung.

Bedeutung gemeinsamer Werte

"Gott" ist für Postman gleichbedeutend mit einer "großer Erzählung", die "genug Kraft hat, die es den Menschen ermöglicht, diese Erzählung in den Mittelpunkt ihres Lebens zu stellen", Schule vermittelt, in allen bisherigen Kulturen, nicht nur Wissen, sondern sie "sozialisiert": formt ein grundgemeinsames Bewusstsein von Zugehörigkeit und Werten, Bilder von Vergangenheit und Zukunft, ist ein Ort für Antworten auf die Fragen: warum und wozu. Und deshalb gehen epochale Brüche Hand in Hand mit Revolutionen der Wissenssysteme, der Lernformen, der Gedankenwelten. So begann die europäischeNeuzeit mit einer Bildungsrevolution. Die Reformation war, unterhalb der theologischen Kämpfe im Glaubenshimmel, eine große Alphabetisierungskampagne: Zusammen mit dem Buchdruck schuf sie die Wissensinfrastruktur für die europäische Neuzeit. Deren "Gott" hieß Fortschritt, und die empirischen Wissenschaften und die
auf sie gegründete Technik formten die "große Erzählung".

Forderung nach Chancengleichheit

Wissen ist Macht. Das heißt auch: Wer die Macht hat, teilt das Wissen zu. In den Klassenkämpfen des 19. Jahrhunderts forderten die unteren Schichten beides: Demokratie und Volksbildung. Erst die Weimarer Republik brachte das allgemeine Wahlrecht. Aber die Klassenschichtung bestimmte weiterhin die Organisation des Schulwesens: Gymnasium für die Eliten, Volks- und Realschulen für die Lohnarbeiter aller Stufen.
Fürs Gymnasium mussten Eltern bis in die Sechziger Jahre Schulgeld zahlen; auch in der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft", die angeblich die Klassengesellschaft überwunden hatte, kamen maximal fünf Prozent der Studenten aus Arbeiterfamilien, von den katholischen Mädchen vom Lande ganz zu schweigen; gingen die einen ins Kino und auf den Bolzplatz, die anderen ins Theater und zum Tennis. In den Sechziger Jahren wurde dann, in der Bonner Republik, die "Bildungskatastrophe" ausgerufen. Der Schock ging vom Sputnik aus, dem sowjetischen Satelliten; in den industriekapitalistischen Schreck über die Unterversorgung mit qualifizierten Arbeitskräften mischte sich, sozialdemokratisch, die Forderung nach Chancengleichheit. Studenten gründeten "Kritische Universitäten", forderten die Orientierung der Universität an den großen gesamtgesellschaftlichen Aufgaben Gesundheit, Erziehung, Umweltschutz und an den globalen politischen Bewegungen der Zeit: den kolonialen Befreiungsbewegungen, dem Kampf der Schwarzen in den USA.

Frontalunterricht und Zensurenschematismus

A tempo wurden neue Hochschulen und Schulen gebaut, die "Begabungsreserven" der Gesellschaft mobilisiert, die Abiturientenquote drastisch erhöht und damit auch die Zahl der Studenten aus Arbeiterfamilien. Reformschulen führten vor, wie die Befreiung von Lehrplanrigidität, Stundendisziplin, Frontalunterricht und Zensurenschematismus funktioniert - aber der Kampf der Sozialdemokraten für die Gesamtschule ging verloren. Und mit der konservativen Wende der Achtziger Jahre erstarrte der Reformschwung.
Heute reden die Politiker aller Parteien wieder von Bildungsverlierern. Die neue Bildungsungleichheit, wie die gewachsene Ungleichheit insgesamt, folgt der Klassenspaltung in der globalisierten Arbeitswelt: ein knappes Drittel von Hoch- und Höchstqualifizierten, eine wachsende Zahl von prekär angestellten Hilfsarbeitern, Boten, Dienstleistern aller Art - und dazwischen eine Mittelschicht, die immer angestrengter an Aufstieg glaubt und von Abstiegsängsten gepeinigt ist.
Wissenschaft und Energiewende
Die Pandemie hat gezeigt, dass kleinere Reformen nicht ausreichen werden, um die Krisen des Jahrhunderts zu bewältigen. Vor allem die Klimakrise drängt. Um sie zu meistern, braucht es eine stärkere Position der Wissenschaft gegenüber der Politik und den Enthusiasmus der Bürger.

Bildung sichert nicht mehr den Aufstieg

"Bildung für alle" wird nicht mehr gebraucht; und Bildung sichert nicht mehr den Aufstieg. Mit zunehmender Automatisierung wandert das Wissen in die Algorithmen, schrumpft in vielen Branchen die Nachfrage nach Menschen mit erfahrungsgebundenen Qualifikationen. Nur in der Elektronik fehlt es chronisch an gut ausgebildeten Arbeitskräften. Das deutsche Schulsystem ist erstarrt. Auch der Pisa-Schock hat das nicht geändert. Zehntausende von Lehrern fehlen, von Chancengleichheit kann keine Rede mehr sein und das Ausbildungsniveau ist gesunken. Von Konsequenzen keine Spur. Vor allem aber: Mit wachsender Differenzierung, gestiegener Individualisierung, schwindender Homogenität, pluralistischen Lebensweisen und stabilen Subkulturen von Arbeitsmigranten, Geflüchteten, Eingewanderten ist die Schule immer weniger in der Lage, Staatsbürgertugenden, soziale Kohärenz und kulturelle Bindung zu erzeugen. Die Versuche besorgter Konservativer, eine deutsche Leitkultur oder eine neue "große Erzählung" zu implantieren, endeten in Vergeblichkeit und Lächerlichkeit.

Deutschlands Schulsystem ist eine Bürokratie

Alles das beschleunigt den Exodus aus dem staatlichen Schulsystem: Inzwischen gehen rund zehn Prozent aller Kinder auf Privatschulen, die gut ausgestattet sind, kleine Klassen haben - und teuer sind. Das trägt die Klassenspaltung in die nächste Generation. "Die Schule der Nation ist die Schule", sagte Willy Brandt, das gilt auch so herum. Die deutschen Schulen wie das Land insgesamt leben von der Substanz, aber die Brücken und der Konsens bröckeln und die Ungleichheit wird gefährlich. Und nun waren die Schulen ein schlimmes Jahr lang im Ausnahmemodus. Ein Résumé ist schwer möglich, denn Deutschlands Schulsystem ist eine Bürokratie mit sechszehn verschiedenen Ministerien, deren Entscheidungstechnik das beschleunigte Zickzack ist. Eine statistische Erfassung des Unterrichtsausfalls während der Zeit der Schulschließungen hätte, so das sächsische Kultusministerium, zu großen Aufwand bedeutet.
Was Schüler im 21. Jahrhundert lernen sollten
Schulen müssen Schülern beibringen, über Fächergrenzen hinweg zu denken und Zusammenhänge zu begreifen, betont OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher. Die Coronakrise könne eine Chance sein, von starren Plänen zu offeneren Konzepten zu wechseln.

Versagen der "zuständigen Akteure" in der Pandemie

Deutschland, das war schon vor Corona klar, ist spät dran mit der Ausstattung von Schulen mit Computern und WLAN-Anschlüssen. Aber Schulen sind nur ein ärgerlicher Sonderfall der allgemeinen deutschen digitalen Verspätung. Im zweiten Lockdown, das zeigt eine gründliche Untersuchung des ifo-Instituts, war die Situation kaum besser als im ersten. Die Kinder haben mehr am Computer gedaddelt als mit ihm gelernt. Zurückhaltend nennen die Forscher die Leistungen der Schulen beim Fernunterricht "durchaus ernüchternd". Auch mit langen Vorlaufzeiten und nach eindringlichen Appellen sei es den "zuständigen Akteuren" nicht gelungen, eine "ausreichende Beschulung" sicherzustellen; die offiziellen Lernzeitverluste würden deutlich unterschätzt, und Nicht-Akademikerkinder hätten schwereren Schaden genommen. Apropos Unterausstattung der Schulen: Nur fünf Prozent der Kinder konnten zu Hause kein Gerät benutzen. Von den fünf Milliarden aus dem Bundeshaushalt, die seit 2019 schon für die digitale Ausstattung der Schulen bereitstehen, wurden bis jetzt erst 0,14 Prozent abgerufen.

Spanien stellte für zwei Milliarden Euro 14.000 Lehrer ein

Es fehlt an WLAN, es fehlt an Servern, es fehlt vor allem aber an Menschen. Und nicht nur an solchen, die das Intranet der Schule einrichten und pflegen. Schon vor der Pandemie fehlten 26.000 Grundschullehrer. Vor allem fehlt es an institutioneller Fantasie: Der Bundespolitik ist in der Notlage nur der "Kinderbonus" eingefallen. 300 Euro für jedes Kind, das summiert sich zu 4,3 Milliarden für ein konsumförderndes Strohfeuer. 4,3 Milliarden - das ist genau die Summe, nur mal so zum Beispiel, mit der man alle 240.000 Lehramtsstudenten und -studentinnen in Deutschland 12 Monate lang zur Entlastung in die Schulen hätte schicken können. Mit 1.500 Euro im Monat entlohnt, hätten sie für die Krisenzeit die Zahl der Grundschullehrer mehr als verdoppeln, kleine "nomadische" und ansteckungsverhindernde Lerngruppen bilden, Hausaufgaben betreuen können - und den furchtbaren Hausarrest der Kinder verhindern. Einen Vorschlag in dieser Richtung hat Annalena Baerbock schon im Februar des vergangenen Jahres gemacht, im Mai gab es mit ähnlicher Stoßrichtung eine Petition von ein paar Tausend Lehrern, Schuldirektoren, Pädagogikprofessorinnen. In Spanien stellt man für zwei Milliarden kurzfristig 14.000 Lehrer ein.
Ohne Pädagogik ist das Tablet nichts
Mit dem Digitalpakt können Schulen jetzt auch vermehrt mit Tablets arbeiten. Lehrkräfte haben damit mehr Verantwortung für den Lerninhalt. Schüler sollen individueller gefördert werden. In den Niederlanden hat man aus den ersten digitalen Versuchen gelernt.

Die Öffentliche Schule ist gefährdet

Deutschland ist ein Hardware-Land. Die Schulmisere erschrickt, weil sie zeigt, wie gefährdet und unwahrscheinlich so eine zivilisatorische Errungenschaft wie die Öffentliche Schule ist, wenn die Routinen auch nur vorübergehend unterbrochen werden; wie schnell die Unterprivilegierten noch weiter nach unten rutschen, mit unabsehbaren Folgen. Entsprechend hektisch sind nun die Aktivitäten der "zuständigen Akteure", die Lernrückstände mit zwei Milliarden Euro aufzuholen, mit Nachhilfekursen, die, solange sie freiwillig sind, kaum wahrgenommen werden.

Verpasste pädagogische Gelegenheiten

Und dann gibt es Versäumnisse, die sind noch gewichtiger als fehlende Interfaces: die verpassten pädagogischen Gelegenheiten. "Vielleicht haben wir alle noch nie im Leben so viel in so kurzer Zeit gelernt", sagt mir Ulrike Kegler, die bis vor kurzem eine öffentliche Montessori-Schule geleitet hat. "Auch die Lehrer waren doch ihren Schülern kaum voraus im Umgang mit Pandemien, mit dem Prozess der Wahrheitsgewinnung in Wissenschaften, mit der Rolle von Lügen in der Politik. So ein Erlebnis hat man doch vielleicht nur einmal im Leben. Das hätte doch Stoff sein müssen für forschendes Lehren: über die Angst und wie sie in den Familien gewirkt hat; über den Umgang mit der eigenen Langeweile; natürlich auch die schlechten und die guten Filme, die man gesehen hat; was mit dem Körper passiert ist und so weiter. Das reicht immer noch für ein halbes Jahr an Projekten."

Rückkehr zum pädagogischen Fünfeck

Stattdessen bekunden nun die Kultusminister die Entschlossenheit, nach den Sommerferien zum "dauerhaften (…) uneingeschränkten Regelbetrieb (…) mit allen Schulfächern und Unterrichtsstunden" zurückzukehren. Aufholpakete, Auffangnetze, Nachholmaßnahmen für eine Milliarde - man weiß bloß noch nicht, wer das wie organisiert. Alles sieht nach einer Rückkehr zum pädagogischen Fünfeck aus Lehrplan, Klassenraum, Jahrgangsstufen, Präsenzunterricht und Benotung aus.
100 Jahre Waldorfschule
An Waldorfschulen lernen Kinder nach dem Konzept des Anthroposophen Rudolf Steiner: ohne Noten und Lehrbücher, aber mit Schulgarten und Eurythmie-Unterricht. Waldorfschulen gibt es heute auf der ganzen Welt. Starke weltanschauliche Prägung stand dem Erfolg nicht im Weg.

Ein pädagogisches Intranet der ganzen Stadt

In Ulrike Keglers ehemaliger Schule wird schon lange nomadisch gelernt: nicht nur auf Ausflügen, sondern beim Erkunden von Nachbarschaften, Institutionen und Milieus; die Pubertierenden sind eine Woche im Monat überhaupt nicht in der Schule, sondern auf dem Ackergelände am nahen See, wo sie pflanzen und ernten, Boote und Ökotoiletten bauen und dabei natürlich nicht ohne Mathematik und pastorale Poesie auskommen. Es gibt solche Schulen in Deutschland, und gar nicht so wenige, die sich nach außen wenden, etwa wie die Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe: Auf einer interaktiven Karte sind die Lerninseln der Stadt zu finden: Firmen, bei denen die Schüler und Schülerinnen WLAN und nicht genutzte Büroräumen finden können, geschlossene Cafés, in denen Lerngruppen sich treffen können mit Ingenieuren, Bastlerinnen, Bibliothekaren, oder älteren Menschen auf die digitalen Sprünge helfen. So entsteht ein pädagogisches Intranet der ganzen Stadt - ganz im Geiste dessen, was das Internet am Anfang war und immer noch sein könnte, und ganz im Geiste des alten Erzieherspruchs: Ein Kind braucht ein ganzes Dorf, um groß zu werden.

Wege zu Kreativitätsexplosionen

Das wäre doch die aktuell dringlichste Aufgabe von Bildungsverwaltungen und -forschung - dringlicher als Lernrückstandsmessung nach Pisa-Kriterien: herauszufinden, wie es zu solchen Leuchtturmschulen kommt, und was zu tun, was zu fördern wäre, damit solche Kreativitätsexplosionen zur Regel werden. Wie die Auswahl von Schulleitern verbessert werden könnte und wieviel mehr Autonomie man den Schulen geben muss. Wieviel Geld der Staat aufwenden müsste für Gebäude oder Außenstellen, in denen Erfahrungen gemacht werden können, in der Gruppe oder in der Stille. In denen Lernende und Lehrende sich einen ganzen Lerntag lang begegnen können. Ob es einen Grundgesetzartikel gibt gegen die Präsenz von Lehrern auch am Nachmittag - was Arbeitsräume in der Schule erforderte - und, fantasieren wir es mal utopisch zu Ende: ob sich diese Gesellschaft nicht perspektivisch so etwas wie eine Verdoppelung der Lehrkräfte, Sozialarbeiter und Coaches spendieren könnte. Nach meinem Taschenrechner müsste man dafür eigentlich nur das Ehegattensplitting und die Subventionen für Diesel, Flugbenzin, Interkontinentalflüge, Hotels und Dienstwagen streichen und die Mehrwertsteuer um zwei Punkte anheben - aber was wäre das für eine Zukunftsinvestition.
Hürden der Digitalisierung an Schulen
Milliarden stehen bereit - doch für die Digitalisierung deutscher Schulen haben die Länder bislang nur einen kleinen Teil des Geldes abgerufen. Obwohl die Corona-Pandemie den Digitalunterricht so nötig macht wie nie zuvor. Viele Eltern sind wütend, Lehrer müssen Spott und Häme einstecken.

Digitalisierung als pädagogische Wunderwaffe

Im Augenblick fließt Geld eher für die Digitalisierung, die als pädagogische Wunderwaffe propagiert wird. "Digitale Bildung für alle" soll für die "Schule von Morgen" sorgen. Der Werbeunternehmer Ströer - der König der Plakatwerber und Eigentümer der Nachrichtenplattform t-online - hat Plakate in der Republik kleben lassen für eine bundesweite Digitalkonferenz zur Erneuerung der Schule, ins Leben gerufen von zwei mittelständischen Betreibern digitaler Bildungswerkzeuge mit dem Anstrich einer Volksbewegung für die "Schule der Zukunft".

Neue Hardware und Software-Interessen dringend hinterfragen

Eine Diskussion tut dringend not und viel Transparenz, nicht weniger dringlich als die über die Energiewende. Denn auch hier geht es um die Installation von Systemen, die über Jahrzehnte bestimmen werden, wie die kreativen Energien der Gesellschaft produziert werden, was als notwendig, was als überflüssig gelten wird, wie die Schulen der Zukunft aussehen. Und welche Hardware und Software-Interessen sich hinter welchen Ratschlägen verbergen. Denn billig wird das Ganze nicht. 400 Euro pro Oberschüler kalkuliert die Bertelsmann-Stiftung. Pro Monat und auf Dauer. Ein neuer Wachstumszyklus ist in Sicht, die Claims werden gerade abgesteckt.

Allseitige Vernetzung, inhaltsfrei, getrieben von Politikern

Wie immer lohnt ein Blick nach Amerika. Da deutet der Gouverneur des Staates New York schon mal an: Die Pandemie biete die Gelegenheit, auch darüber nachzudenken, ob man all diese "physischen Klassenzimmer noch braucht, bei all der avancierten Technologie, die wir jetzt haben". In Deutschland sind wir, das stimmt, noch nicht ganz so weit. Aber der Schwung, mit dem digitale Kleinunternehmer den "Bedarf nach einem neuen Land" relativ inhaltsfrei mit allseitiger Vernetzung gleichsetzen, geht eine beobachtenswerte Koalition ein mit Politikern, die mit beschleunigter Digitalisierung das Wachstum beschleunigen wollen. Solange es dabei um Verwaltungsvereinfachung geht, um die die Möglichkeit, Kfz-Papiere, Meldebescheinigungen und Papierkram aller Art online zu erledigen, ist das genauso erwünscht wie alles, was die Schlangen und die Warteschleifen verkürzt. Zynisch wird es nur, wenn die Digitalisierung den Modernisierungspopulismus füttert.

Digitalisierung als Schlag gegen das Bildungsbürgertum

Wenn konservative Politiker die Untätigkeit ihrer eigenen Partei beklagen und gleichzeitig festschreiben - Zitat aus einem programmatischen Buch über den NEUSTAAT (mit zwei "a"): Der "heute allseits bekannte und beklagte Lehrermangel - 35.000 fehlen bis 2025 allein an den Grundschulen - war absehbar und wird sich alsbald noch stark verstärken". Die Konsequenz daraus sei die digitale Schule, und nicht als Notlösung, sondern als "Humboldt für alle", als die Demokratisierung von Bildungswegen, die bislang nur den Kindern einer "ehrgeizigen Oberschicht (…) aus dem Bildungsbürgertum" offenstanden, die "überdurchschnittlich solvent und bildungsnahe" ist. Die technopopulistische, antibürgerliche Rhetorik ist nicht neu. Schon vor sechs Jahren propagierte Jörg Dräger, ein Vorstand der Bertelsmann-Stiftung, die Digitalisierung als Schlag gegen das Bildungsbürgertum und seine Privilegien. Der Vorsprung der Kinder aus Familien mit Bücherschränken, Privatlehrern und Sprachurlaub werde durch die Digitalisierung schrumpfen. Da man dann die Kompetenzen auch noch objektiv messen könne, würde das auch die Zuweisung von Arbeitsplätzen gerechter machen.

Schule als zentraler sozialer Ort am Beginn eines Lebens

Das kulturelle Aufstiegsversprechen ist die Turbovariante der alten meritokratischen Lüge, die da lautet: Streng dich an, und ein Mercedes wird dich belohnen. Dabei ist es so durchschaubar wie notorisch, dass der Schulerfolg vom Elternhaus abhängt, dass die großen Karrieren in Netzwerken gründen, in personalen Beziehungen, abhängig sind von Codes der Umgangsformen, der Sprache, der Haltung. Es mag ja sein, dass es irgendwann eine App geben wird, die mir sagt, dass ich Manschettenknöpfe tragen muss, wenn ich Elite sein will. Aber ob das etwas nützt? Die öffentliche Schule ist ihrer Intention nach und immer noch, wie mangelhaft auch immer - ein zentraler sozialer Ort am Beginn eines Lebens, an dem ich Freundschaften schließe, an dem ich auf Erwachsene treffe, Lehrer genannt, die Vorbild sein können, die mich fordern, an denen ich mich abarbeite, die mir etwas vormachen, vorlegen, vorleben. Die meine Leidenschaft oder meinen Widerstand zünden. Die mich begeistern.
Gerald Hüther: "Schule ist der Ort, wo Kinder ihre tiefsten Bedürfnisse stillen"
Der Neurobiologe Gerald Hüther warnt vor den Auswirkungen des Lockdowns auf die kindliche Entwicklung. Kinder verlören ihr Gefühl für Bedürfnisse, die sie länger nicht ausleben dürften, sagte er im Dlf.

Humanistisch denkende Hirnforscher haben die Schule aufgegeben

Es stimmt, die Organisation des Lernwesens bremst solche Lehrer oft aus. Humanistisch denkende Hirnforscher haben deswegen die Schule aufgegeben. Das Beste wäre, die Schule möge sich, so schlägt es Gerald Hüther in seinem neuesten Buch vor, auf das konzentrieren, "was sie auch bisher schon gemacht (hat):
Aufbewahrung, Unterricht, Leistungskontrollen, Vergabe von Zertifizierungen und Abschlüssen". Zur Berufsschulen werden also. Es wäre dann nicht mehr Aufgabe des Lehrers, die Heranwachsenden instand zu setzen, "ein gelingendes, sinnerfülltes und glückliches Leben" zu führen, sie "fit zu machen für das, was das Leben für sie bereithält". Wenn die Schule ihr Kerngeschäft ordentlich macht - die begeisterungsfreie Wissensvermittlung - dann könnte, so Hüthers Idee, alles, was man klassischerweise Menschenbildung nannte, was jetzt Kreativität oder Potenzial heißt, den Kindern selbst überlassen oder von denen erledigt werden, die es mit Lust und Liebe und Zeit machen - oder als Geschäftsfeld entwickelt haben: in den Workshops und Events und Sommercamps der Kreativitätsindustrie. Zitat vom Werbeblock: "Dort wo der Einflussbereich der Schule endet, beginnt der Einfluss der HERO SOCIETY®. Mit unserer Expertise wecken wir Superkräfte."

Outsourcing zementiert die Spaltungen

Es ist keine antihumanistische Sünde, wenn man mit Minecraft-Schulungskursen, mit Musikunterricht oder Erfahrungsfreizeiten Geld verdient, aber das Outsourcen, die Preisgabe der sozialen und psychologischen Aufgabe der Öffentlichen Schule wird die Spaltungen zementieren: Eltern, die Geld und Zeit haben, werden ihre Kinder an sinnstiftende Orte schicken. Und die anderen? Die Logik, die hinter derlei Abhilfen steht, ist dieselbe, mit der Wirtschaftsliberale und Großverleger dem öffentlichen Rundfunk oktroyieren möchten, er solle sich doch auf das informationelle Schwarzbrot, also auf die Vermittlung von Kultur, Wissenschaft und Nachrichten beschränken - und die Unterhaltung, den Fußball und das Tingeltangel den Profitsendern überlassen. Es käme dann für alle billiger.

Menschen erfahren sich nicht mehr als Kooperierende

Outsourcen - das ist das Rezept, mit dem die Reinigungskräfte nicht mehr von den Krankenhäusern angestellt werden, die Teiglinge für Brötchen aus China kommen und der Programmierunterricht für die Schulkinder von der Firma HaBa und nicht vom Mathelehrer. Outsourcen führt dazu, das Institutionen im Kern immer schlanker werden - das ist effizient, aber die Menschen erfahren sich nicht mehr als arbeitsteilig Kooperierende, sondern als Zulieferer und Kunden füreinander. Am Ende gibt es dann wirklich dieses "Ding namens Gesellschaft" nicht mehr, das Margaret Thatcher zu Beginn der neoliberalen Periode verabschieden wollte.

Zerfall in ideologische Blasen

Es wird schwierig für die öffentliche Schule, schrieb Neil Postman, wenn die Gesellschaft in ethnische Stämme, ideologische Blasen, identitäre Klein- und Großgruppen zerfällt, wenn das Leben der einen sich in der gated community abspielt und das der anderen im ethnisch homogenen Ghetto mit Plattenbauten, wenn die einen nach dem Abendessen beim Lösen der Gleichungen mit zwei Unbekannten geholfen bekommen und die anderen mit ihrem alleinerziehenden Elternteil drittklassige Gangsterfilme schauen oder daddeln. Es wird schwierig. Neil Postman schrieb seinen skeptischen Satz 1995. Schon damals war es schwierig, und das war vor iPhone und Computer und Internet und Youtube und Instagram und Twitter und den perfekt manipulierenden Gaming-Welten.

Schule als Ort, wo sich verschiedene Milieus noch begegnen

Aber die Öffentliche Schule ist - und ich würde sagen, heute gerade noch - der einzige Ort in dieser Gesellschaft, an dem Menschen so etwas wie eine klassische Öffentlichkeit erleben. Nachdem die Wehrpflicht abgeschafft ist, und in dem Maße, in dem das Internet kein Marktplatz ist, sondern ein Nebeneinander von Blasenwelten, die einander nicht berühren oder ignorieren oder unbelehrt bekämpfen, bleibt nur die Schule, an der sich zumindest die Kinder aus verschiedenen Milieus, mit verschiedenen Begabungen, aus unterschiedlichen Ethnien oder Herkünften noch begegnen, wenn auch durch Wohnviertel und Elternwahl vorsortiert. Mit der weiteren Schwächung der Öffentlichen Schule, ob nun durch Privatschulen oder durch eine technokratische Digitalisierung, geben wir noch ein wenig mehr von diesem Ding namens Gesellschaft" auf. Eine Institution, deren Mitglieder repräsentativer für die Gesamtgesellschaft sind als das Parlament, dessen Abgeordnete sich aus dem Kreis von rund 200.000 ämterorientierten Parteimitgliedern rekrutieren.
Mitbestimmung von Jugendlichen an Schulen
Schulen auf, Schulen zu, Wechsel- und digitaler Fernunterricht. Wer fragt eigentlich die Schülerinnen und Schüler? Wir! Mit ihnen und den Partizipationsforscherinnen Marina Weisband und Ines Boban diskutieren wir über Demokratie in der Schule.

Was kann jungen Menschen helfen, die Zukunft zu bestehen?

"Die Schule ist mit Sicherheit auf dem Weg zu ihrem Ende, wenn sie keinen Sinn mehr macht", schreibt Postman, wenn es keine Erzählung mehr gibt, die Lehrer und Schüler, Schülerinnen und Eltern miteinander teilen können, wenn es keine geteilte Kultur mehr gibt, sondern nur die unverbundenen Blasen der Sichtweisen, der Lebensformen, der Wahrnehmungen, der Werte. Wenn die Schule keinen Grund fürs Lernen, fürs Zusammensein an einem Ort mehr angeben kann. Dabei gibt es diesen Grund. Denn wer in diesem Jahr eingeschult wird, der geht, nach jetziger Rechnung, 2082 in Rente. Falls es dann noch Renten geben wird. Er oder sie und die Eltern werden erleben und daran mitwirken, ob es gelingt oder nicht, den Kohlenstoffausstoß der Menschheit bis 2050 so zu senken, dass die Polkappen nicht weiter schmelzen als schon abzusehen, er wird Migrationsschübe, Hitzewellen und die Vollautomatisierung vieler Produktionszweige erleben und ein paar Pandemien und Dinge, von denen wir jetzt noch nichts ahnen. Wie müsste eine Schule aussehen, was wären die Inhalte, was könnte den jungen Menschen helfen, diese Zeit zu bestehen? Mit Sicherheit reicht da nicht die "Rückkehr zum dauerhaften. uneingeschränkten Regelbetrieb (…) mit allen Schulfächern und Unterrichtsstunden", worunter dann vielleicht das Wahlpflichtfach "Nachhaltigkeit" fällt, mit zwei Wochenstunden, oder das Kapitel "Klimawandel" im Geografiebuch.

Wie kommen wir da hin, wo wir hinwollen?

Natürlich brauchen wir immer noch Grundfertigkeiten und Wissen, um zu verstehen und nicht nur zu erleiden, und um mitgestalten können: als Ingenieurin, als Sozialarbeiter, als Arzt oder als Polizistin, als Pfleger oder als Ministerin. Vieles von diesem Wissen lässt sich, das wäre auszugestalten, gut oder besser mit der Hilfe von Software aneignen. Aber angesichts solcher Zukunftsaussichten muss die Öffentliche Schule zu dem Ort werden, an dem es auch und immer stärker um die Frage gehen muss, wo wir hinwollen - und wie wir da hinkommen. Wer wir sind im kosmischen Ganzen. Wo wir herkommen, und woher die anderen. Ein Ort, an dem Archäologie, Anthropologie und Astronomie eine Rolle spielen sollten - so der aberwitzig vernünftige Vorschlag von Neil Postman. Und der hätte Humboldt sicher gefallen.

Die große Erzählung für die Pädagogik liegt bereit

Die Schule der Zukunft - der nächsten Zukunft - steht vor der Aufgabe, eine realistische und positive Pädagogik zu entwerfen: angesichts der wachsenden Ohnmachtsgefühle, angesichts der scheiternden Anstrengungen, der Naturzerstörung Einhalt zu gebieten, angesichts der Angriffe der Medienindustrie auf
unsere Lebenszeit und das Gemüt unserer Kinder, angesichts der Angst aus Unwissenheit und der Furcht, die aus dem Wissen wächst. Aber die große Erzählung für diese Pädagogik liegt bereit. Die Erzählung vom neuen Erdzeitalter, in das wir eingetreten sind: das Anthropozän, das Zeitalter, in dem die Menschen zur entscheidenden Naturgewalt geworden sind. Es ist eine dramatische Erzählung. Im Drama - das haben wir bildungsbürgerlich Privilegierten früher auf dem Gymnasium gelernt - im Drama gibt es zwei Akte, in denen die Probleme sich entwickeln und der Knoten der Verwicklungen sich schürzt, und im dritten Akt geschieht dann etwas, das die Wendung zum glücklichen oder zum unglücklichen Ende einleitet.

Soziale Bewegungen und Veränderung der Schule gehen Hand in Hand

In diesem dritten Akt befinden wir uns: Immer mehr Menschen haben ein Bewusstsein davon gewonnen, dass die Dinge außer Kontrolle geraten, wenn wir so weitermachen. Wenn das nicht geschehen soll, müssen an vielen Orten der Erde Revolutionen stattfinden: Revolutionen der Weltwirtschaft, der Energiesysteme, der Rohstoffnutzung, der Konsumansprüche, der Vergnügungen, der Rechtsordnungen. Oder etwas pastoraler gesagt: Wir müssen zu Hütern der Erde werden, lokal und mit dem globalen Blick, und das überall, damit wir nicht übereinander herfallen und weil über die Zukunft der Mangrovenwälder auch in Wolfsburg und Mannheim entschieden wird. Das ist ungewohnt, aber diese Perspektive könnte ehrgeizige und neugierige Menschen reizen, könnte Engagement und Leidenschaft zünden. Die weiteren Ausführungsbestimmungen stehen in den 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen und im Protokoll des Pariser Klimaabkommens. Zu dem bekennen sich ausnahmslos alle Regierungen der Welt. Und weiter? Und nun? Nur freitags streiken reicht da nicht - es geht darum, die Bildungsanstalten zukunftstauglich zu machen – auch von Montag bis Donnerstag. Und den ganzen Rest natürlich auch. Weil soziale Bewegungen und Veränderung der Schule Hand in Hand gehen. Direkt oder subversiv.