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Irak und Syrien
"IS ist in der Tat mittlerweile ein Staat"

Die militärisch-strategischen Erfolge des "Islamischen Staats" zeigten, dass die Strukturen der Terrormiliz funktionieren, sagte der Arabien-Experte Günter Meyer im DLF. Der IS kontrolliere inzwischen ein großes Gebiet, erhebe dort Steuern und rekrutiere Soldaten.

Günter Meyer im Gespräch mit Martin Zagatta | 22.05.2015
    Günter Meyer, Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt in Mainz
    Günter Meyer, Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt in Mainz (dpa / picture alliance / Peter Pulkowski)
    Martin Zagatta: Die Terrormiliz Islamischer Staat ist offenbar weiter auf dem Vormarsch. Im Irak soll sie gerade erst die Provinzhauptstadt Ramadi erobert haben, in Syrien die antike Stadt Palmyra. Und heute Morgen wird gemeldet, der IS habe jetzt auch noch weitere Dörfer im Irak und auch noch den letzten Grenzübergang zwischen Syrien und dem Irak in seine Gewalt gebracht. Da fragt man sich, wie das zu den Darstellungen der USA und der irakischen Regierung der letzten Wochen passt, der IS sei auf dem Rückzug und fast schon in Auflösung. Professor Günter Meyer ist Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt an der Uni Mainz und jetzt am Telefon. Guten Tag, Herr Meyer!
    Günter Meyer: Guten Tag, Herr Zagatta!
    Zagatta: Herr Meyer, was gilt denn nun? Ist die Terrororganisation Islamischer Staat nun in der Defensive oder auf dem Vormarsch? Lässt sich das sagen?
    Meyer: Die Berichte, die wir in den letzten Wochen gehört haben, beziehen sich vor allem auf Tikrit. Tikrit, die Geburtsstadt von Saddam Hussein, war in die Hand des Islamischen Staates gefallen, und hier ist es vor allem den schiitischen Milizen unter Führung iranischer Offiziere gelungen, den Islamischen Staat zurückzuschlagen. Das war eine deutliche Niederlage. Dagegen das, was wir jetzt in der letzten Woche erleben, das zeigt, dass der islamische Staat keineswegs geschlagen ist, sondern im Gegenteil an zwei Fronten, sowohl im Irak als auch jetzt in Syrien, ganz wichtige strategische Erfolge erzielen konnte.
    Zagatta: Wenn wir kurz beim Irak bleiben. In Ramadi sollen jetzt auch wieder schiitische Milizen aus dem Iran oder mit iranischer Hilfe die Stadt zurückerobern. Können die da auf breiter Front gegenhalten?
    Meyer: Die können das durchaus. Es hätte gerade auch die Möglichkeit gegeben, diese schiitischen Truppen schon vorher einzusetzen. Gerade die Verteidiger, die Stammesführer, die in Ramadi waren, haben nach einer Abstimmung sich dafür ausgesprochen, dass sie Hilfe benötigen von den schiitischen Milizen. Aber offensichtlich haben entweder die Amerikaner interveniert, oder die Regierung selber. Jedenfalls die Milizen kamen nicht. Und dass jetzt, nachdem es diese bittere Niederlage gegeben hat, die schiitischen Milizen erneut dort angreifen könnten - sie sind eigentlich die einzigen, abgesehen von den sehr starken Peschmerga, aber die sind fest bei der Verteidigung ihres Gebietes.
    Das heißt, diese schiitischen Milizen wären die einzigen, die hier noch helfen könnten. Aber das bedeutet gleichzeitig ein weiteres Vorrücken in die Provinz Anbar, die sunnitisch kontrolliert ist, dass die Furcht sehr groß ist, dass die Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten weiter eskalieren werden. Denn bei der Eroberung von Tikrit ist es zu erheblichen Massakern gekommen von schiitischer Seite an den Sunniten. Jeder der in der zurückeroberten Stadt sunnitisch war musste damit rechnen, dass er entweder massakriert worden ist, oder dass die Häuser und Läden angesteckt worden sind. Das wird auf jeden Fall eine Verschärfung der Auseinandersetzungen zwischen den Sunniten in der Provinz Anbar und den schiitischen Milizen zur Folge haben.
    "Palmyra, das ist in der Tat eine wichtige strategische Position"
    Die antike syrische Stätte Palmyra
    Die antike syrische Stätte Palmyra (imago/Greece Invision)
    Zagatta: Wenn wir jetzt auf Syrien blicken, da soll der islamische Staat ja mittlerweile die Hälfte oder sogar mehr als die Hälfte des gesamten Landes kontrollieren. Ist das Regime von Präsident Assad dabei, diesen Krieg zu verlieren?
    Meyer: Zunächst mal zu der Hälfte des Landes. Es betrifft die Fläche. Aber von dieser Hälfte sind zirka 40 Prozent im Wesentlichen Wüstengebiete. Die eigentlichen strategisch wichtigen Standorte, die sind im Euphrat-Tal, und jetzt dieser Vorstoß nach Palmyra, das ist in der Tat eine wichtige strategische Position, weil von hieraus die gesamte östliche Flanke des Gebietes, das vom Regime noch kontrolliert wird, angegriffen werden kann.
    Auf der anderen Seite war es durchaus ein strategischer Rückzug, denn alles deutet darauf hin und die letzten Monate haben das auch gezeigt, dass das Regime sich vor allem darauf konzentriert, die Bevölkerungszentren im Westen des Landes und gerade jetzt in den letzten Wochen das Kalamun-Bergland unter seine Kontrolle zu bekommen und dadurch ein geschlossenes Gebiet bis zur libanesischen Grenze unter die Herrschaft des Regimes zurückzubringen und so zu verhindern, dass aus dem Libanon Nachschub für ISIS, für den Islamischen Staat beziehungsweise für die Nusra-Front und die neue vereinigte Armee der Eroberung von Dschihadisten hier versorgt werden kann.
    "Die Strukturen funktionieren"
    Zagatta: Herr Meyer, lässt sich denn über die Verfassung des IS irgendetwas sagen? In letzter Zeit gab es ja auch häufig Berichte, viele Kämpfer seien frustriert, die wollten sich absetzen. Ist das Spekulation, weiß man da Näheres? Das passt ja jetzt nicht zu den neuesten Meldungen, dass man da wieder auf dem Vormarsch sei.
    Meyer: Das ist eher Wunschdenken. Es gibt natürlich einzelne solche Fälle. Aber gerade die logistischen, militärisch-strategischen Erfolge, die hier erzielt worden sind vom Islamischen Staat in der letzten Woche, die zeigen eindeutig, die Strukturen funktionieren. Es sind vor allem erfahrene Offiziere des ehemaligen Baath-Regimes unter Saddam Hussein, die die gesamte Kontrolle dort ausüben, und es ist in der Tat mittlerweile ein Staat, der ein großes Gebiet kontrolliert, der in der Lage ist, hier Steuern zu erheben, der auch in der Lage ist, von der dortigen Bevölkerung seine Soldaten zu rekrutieren.
    "Es kann nur eine politische Lösung"
    Zagatta: Gerade gibt es Meldungen, die kommen von diesem EU-Ostgipfel in Riga derzeit. Da soll der französische Präsident Hollande, so wird er zitiert, gefordert haben, jetzt sei es Zeit für eine politische Lösung. Er sieht da Anzeichen, dass jetzt aufgrund der neuesten Entwicklung, auch was Palmyra angeht, die USA und Russland vielleicht bereit seien, da an einem Strang zu ziehen. Sehen Sie das auch? Das hat ja bisher überhaupt nicht funktioniert.
    Meyer: Gerade in den letzten Tagen sind von US-amerikanischer Seite, auch von Obama durchaus Töne zu hören, die genau in die gleiche Richtung gehen. Das heißt, man hat eigentlich schon seit Langem gewusst, wenn Baschar al-Assad gestürzt wird, bedeutet das ein Machtvakuum, und dieses Machtvakuum wird dann gefüllt durch die islamistischen Gruppen der mit El-Kaida verbundenen Nusra-Front und vor allem durch den islamischen Staat. Das heißt, von US-amerikanischer Seite hat man dann vor allem gegenüber Saudi-Arabien und der Türkei sich zurückgehalten, deren Hauptziel es ist, Baschar al-Assad zu stürzen. Aber es wird immer deutlicher: Es kann nur eine politische Lösung, es kann nur eine Verhandlungslösung geben unter Beteiligung des gegenwärtigen Regimes.
    Zagatta: Also doch mit Assad?
    Meyer: Genau das.
    Zagatta: Das war Professor Günter Meyer, der Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt an der Uni Mainz. Herr Meyer, ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Einschätzungen.
    Meyer: Vielen Dank, Herr Zagatta.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.