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Iran versucht "Einfluss im Irak zu gewinnen"

Vor wenigen Tagen zogen die letzten US-Truppen aus dem Irak ab. Jetzt versuche der Iran Einfluss zu gewinnen, sagt Nihad Salim Qoja, Bürgermeister im irakischen Erbil. Er befürchtet zudem schlimmste innenpolitische Probleme - und ruft nach Hilfe aus der EU.

Das Gespräch führte Anne Raith | 30.12.2011
    Anne Raith: Vor fünf Jahren wurde der irakische Machthaber Saddam Hussein zum Tode verurteilt und gehängt, Ulrich Leidholdt blickte zurück. Zu diesem Zeitpunkt war Nihad Salim Qoja bereits in den Irak zurückgekehrt, in sein Heimatland, aus dem er Anfang der 1980er-Jahre nach Deutschland geflohen war. Über 20 Jahre hat er dann in Bonn gelebt, bis er zurückging nach Erbil in den kurdischen Nordirak, wo er heute Bürgermeister ist, Bürgermeister einer Stadt, die inzwischen zu einem wirtschaftlich pulsierenden Zentrum geworden ist – und ein Schauplatz des wiederaufflammenden Konfliktes des Landes nach dem Abzug der amerikanischen Truppen. Über seine Erlebnisse und die fragile Lage im Irak habe ich mit Nihad Salim Qoja gesprochen. Zunächst wollte ich wissen, warum er sich 2003 entschieden hat, in den Irak zurückzukehren.

    Nihad Salim Qoja: Der Grund, warum ich damals Irak verlassen habe, war damals aufgehoben, damit ist Saddam Hussein gestürzt und der Weg war frei für die meisten Iraker, die damals aus politischen Gründen Irak verlassen haben. Wir wollten gemeinsam auch mit anderen Rückkehrern Irak wieder aufbauen, ein liberales, demokratisches Irak, das war unser Traum gewesen.

    Raith: Haben Sie gezweifelt, zumal ja Ihre Familien und auch in Bonn lebte und lebt? Sie hatten sich hier ein neues Leben aufgebaut.

    Qoja: Wir haben damals geplant, dass wir gemeinsam zurückkehren. Da die Familie aber in Bonn war, in der Schule, und habe ich auch andere Gründe gehabt, dass die Familie noch hier zurückzulassen wegen meiner Tochter, dass sie krank ist, und deswegen habe ich mich entschlossen, so lange in Irak oder in Kurdistan zu arbeiten, bis es geht. Wie gesagt war unsere Hoffnung, unser Traum, dass wir ein neues Irak gemeinsam beginnen in einer Region, wo überall Probleme gibt, wollten wir ein Musterbild für ganze Region sein.

    Raith: Sie sind dann nach Erbil gegangen. Damals war Erbil noch eine der marodesten Städte der ganzen Region. An welche Eindrücke erinnern Sie sich, wenn Sie an Ihre ersten Tage und Wochen zurückdenken?

    Qoja: Erbil ist eigentlich eine der ältesten bewohnten Stadt der Welt historisch gesehen, ist 8000 Jahre alt. Als ich zurückging, wusste ich, dass wir vor eine große Aufgabe stehen. Die Stadt ist eigentlich eine Stadt der Menschheit, daher ist die Verantwortung größer als alles andere Städte. Wir haben mit dem Aufbau angefangen, weil die Stadt war wirklich ein marode Stadt, die Regierungen in Bagdad, Zentralregierungen haben diese Region, Kurdistan-Region immer vernachlässigt, insbesondere Erbil, weil diese Regierungen wollten die historische einfach wegwischen, um vielleicht ihre eigene Politik da zu führen. Die Aufgabe war enorm groß, und 2004 haben wir mit dem Aufbau angefangen. Wenn man heute Erbil sieht – die Stadt hat ein anderes, alte, neues Gesicht bekommen.

    Raith: Was waren denn damals die ersten, die wichtigsten Projekte, die Sie angestoßen haben?

    Qoja: Also wir haben mehrere Probleme gehabt. Sehr wichtig für uns war damals, dass die Menschen sauberes Trinkwasser bekommen. Strom war sowieso ein Problem, nicht nur in Erbil, sondern in Gesamt-Irak. Zweitens: Müllabfuhr war auch ein Problem, weil das System ... Nach dem Krieg war alles zusammengebrochen, obwohl ... sich während der ganzen Embargojahre von 90 bis 2003 Irak zu einem marode Staat umgewandelt hat. Auf jeden Fall, erst mal haben wir versucht, ein ganz großes Trinkwasserprojekt in Erbil zu machen, und das haben wir zum Glück geschafft, und dann haben wir versucht, Müllabfuhr-Probleme zu lösen. Ich habe damals bisschen Erfahrung so aus Deutschland mitgenommen und auch ein paar Freunde auch damals angerufen, mit denen beraten, wie wir dieses Problem schaffen. Zum Glück, wir haben dieses Problem teilweise gelöst, aber wir stehen immer noch vor andere Probleme, zum Beispiel Kanalisation in Erbil, eine der größten Probleme. Das Elektrizitätsproblem haben wir auch gelöst. Wir haben zurzeit in der Stadt ungefähr 20 Stunden Strom fließen, damals war, 2003, 2004, nicht mehr als drei Stunden am Tag.

    Raith: Sie wollten damals Erbil zu einem Musterbeispiel machen. Wo steht denn Erbil im Vergleich heute zum Rest des Iraks? Die Sicherheitslage in der Region gilt ja als relativ stabil, es gibt dort sogar Auslandsvertretungen, ausländische Schulen. Wo steht Erbil heute?

    Qoja: Erbil steht eigentlich in der Spitze, Erbil ist eine der führenden Städte nicht nur in Irak, sondern in der Region auch, das belegt auch unsere ausländische Gästeinstitutionen, die bei uns sich niedergelassen haben. Wie Sie auch jetzt gerade gesagt haben, wir haben mehr als 18, 20 ausländische Vertretungen mit Generalkonsulat, und Deutschland war der führende Staat, der zuerst der Generalkonsul eröffnet hat, das war 2008. Und daher – Erbil profitiert von dieser Stabilität, Sicherheitslage und politische Stabilität. Erbil ist ein Erbe der irakischen Wirtschaftskraft geworden, weil die fast gesamte wirtschaftliche Aktivitäten des Iraks laufen über Erbil.

    Raith: Wirtschaftlich – Sie sagen, es hat sich Erbil erholt. Wie sieht es denn mit der Aufarbeitung der Geschichte und des Geschehenen aus? Heute vor fünf Jahren wurde Saddam Hussein gehängt, es war ja ein auch in den Kurdengebieten nicht unumstrittenes Urteil. War das ein Datum, das noch einmal eine wichtige Rolle gespielt hat?

    Qoja: Das glaube ich nicht. In Kurdistan war dieses Datum ein Genugtuung für die (…), weil wir seit 1991 fast unabhängig waren von Irak durch UNO-Schutzzonen damals, die für uns eingerichtet wurden. Von daher war ... Dieses Datum war eine Genugtuung. Man war mehr mit anderen Sachen beschäftigt, Prioritäten waren für uns in Kurdistan, mehr Dienstleistungen anzubieten. Ansonsten, dieses Datum war eine Strich von eine bestimmte Epoche der Geschichte im Irak.

    Raith: Ein weiteres Datum, eine weitere Epoche, die nun zu Ende gegangen ist, war der Abzug der amerikanischen Truppen vor Weihnachten. Mit welchen Gefühlen haben Sie diesen Abzug verfolgt?

    Qoja: Wir waren immer der Meinung, der Abzug der Amerikaner könnte Irak zu einem großen Problem wieder zurückbringen, und das hat unsere Befürchtungen bewahrheitet. Eine Abzug der amerikanischen Truppen aus dem Irak in diesem Moment, wo die ganze Region, wie man sieht, in Syrien und arabische Frühlingsbewegungen, auch Problem mit dem Iran, war für uns klar, dass das Iran versucht hat, durch diese Abzug die Amerikanern aus dem Irak sich stark im Irak einzumischen und dort Irak als Schutzmauer zu nutzen. Sie wissen, dass Iran ... Wir wissen alle: Iran verliert Einfluss in Syrien und versucht Iran jetzt, Einfluss im Irak zu gewinnen, um diesen Balance für sich zu behalten. Irak befindet sich zurzeit an einem ganz großen Scheidepunkt. Bestimmt haben Sie auch gehört, dass zurzeit in der Region oder in der Regierung große Probleme gibt zwischen der stellvertretender irakischen Präsident und Maliki, Ministerpräsident, und das ist der Anfang eigentlich von einem großen Problem, wo wir mit dem Schlimmsten fürchten.

    Raith: Nun sind die Kurdengebiete in gewisser Weise daran beteiligt, als dass sie Vizepräsident Haschimi, Sie haben ihn angesprochen, aufgenommen haben. Inwiefern kann und wird sich denn der kurdische Norden aus diesem Konflikt heraushalten oder einmischen?

    Qoja: Seit Sturz des Regimes in Bagdad, also ich meine Saddam Hussein, die Kurden waren immer ein Stabilitätsfaktor im Irak. Wir haben immer versucht, zwischen beide Parteien, also Schiiten und Sunniten, eine Vermittlerrolle zu spielen, und das spielen wir immer noch heute. Ohne positive Rolle der Kurden im Irak wäre Irak vor paar Jahren in einen schlimmen Bürgerkrieg vielleicht gestürzt. Aber wir versuchen, dass wir diese Rolle, diese neutrale Rolle weiterzuspielen, um Irak von einem Bürgerkrieg – vielleicht kommt noch schlimmer, kann man schlimmer erwarten –, um das Ganze zu vermeiden.

    Raith: In gewisser Weise aber beziehen Sie ja jetzt schon Position, indem Sie Haschimi Schutz bieten.

    Qoja: Wissen Sie, das Problem ist nicht so einfach im Irak, das ist ein politisches Problem, das wissen wir. Wenn es um Terrorsachen geht, ob Haschimi an diese Terroraktionen beteiligt oder nicht – es besteht eine Frage, seit paar Jahren besteht ein Haftbefehl gegen Muqtada as-Sadr, diese radikale, religiöse Partei. Warum hat Maliki diese Haftbefehl nicht durchgeführt, warum jetzt gerade gegen Haschimi? Da sind die Fragen für uns. Also direkt nach dem Abzug der Amerikaner, Maliki versucht natürlich durch Einfluss des Iran, seine Position in Bagdad zu stärken in der Hoffnung, vielleicht Syrien zu unterstützen. Es ist für uns auch eine große Frage. Ein Volk, das seit 30, 40 Jahren unter dem Joch von Diktator Saddam Hussein gelebt hat und sich befreit hat, und jetzt – diese Regierung versucht, ein Diktator, der in Syrien ... zu unterstützen. Da sind die Fragen, für uns keine Antwort haben. Also Diktatur zu unterstützen, kommt für uns nicht infrage. Diese Entscheidung, die Maliki getroffen hat, war seine eigene Entscheidung. Die meisten irakischen Parteien sind damit nicht einverstanden. Deswegen, man sieht, das Problem geht nicht um Haschimi allein, es ist ein Haufen von Problemen, die ganzen Nahen Osten betrifft.

    Raith: Wohin führt dieser Haufen an Problemen, den Sie ansprechen? Kann sich der Irak alleine, in Anführungszeichen, befrieden, alleine zu einem Konsens kommen?

    Qoja: Wir glauben nicht. Wir glauben daran, dass wir immer noch die Hilfe der Amerikaner brauchen, Hilfe der europäischen Länder, also gemeinsame EU, um Stabilität im Irak zu bewahren. Wir brauchen diese Unterstützung, politische Unterstützung zuerst, und zweitens Hilfe, um Irak wieder aufzubauen. Solange die Menschen keine Arbeit haben, klar, versuchen, radikale Parteien anzugehören oder radikale Gruppierungen anzugehören. Daher ist diese Hilfe, diese Beistehen insbesondere der Europäischen Gemeinschaft, für uns sehr, sehr wichtig, Irak als Partner zu nehmen, um gemeinsam mit dem Irak ein liberales System, eine liberale Gesellschaft im Irak aufzubauen.

    Raith: Sagt Nihad Salim Qoja, Bürgermeister der nordirakischen Stadt Erbil, im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Haben Sie herzlichen Dank!

    Qoja: Gern geschehen, einen schönen Tag!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.