Remme: Wie kam es zu diesem Schock?
Morgenroth: Die politischen Parteien, die für das Nizza-Referendum sind, haben einfach nicht genug getan und haben geglaubt, dass, wie bei den anderen Verträgen, wie zum Beispiel Maastricht, Amsterdam usw., die Wähler einfach zu den Wahlurnen gehen und ja sagen würden, ohne dass die politischen Parteien etwas dafür zu tun brauchten. Das war dann, zum Teil aus innenpolitischen Gründen, nicht der Fall, denn die Bevölkerung wollte der Regierung auch eins auswischen, was auf diese Art und Weise ganz leicht zu machen war. Und das ist natürlich immer noch eine Möglichkeit, denn es gibt eine ganze Reihe innenpolitischer Sachen, die für die Bevölkerung wichtig sind.
Remme: Herr Morgenroth, erklären Sie uns diesen scheinbaren Widerspruch zwischen dem Nutzen, den die Iren in den vergangenen Jahren aus der Mitgliedschaft der EU gezogen haben und der Skepsis, die ja offenbar dennoch groß ist.
Morgenroth: Ich glaube, der Nutzen ist unbestritten, und das wird auch die Mehrheit der Bevölkerung zugeben, dass die Mitgliedschaft in der EU ein sehr großer Vorteil für die irische Wirtschaft war, auch weiterhin bleiben wird. Das Problem ist, dass die Anti-Nizza-Kampagne, die von kleineren Parteien, wie zum Beispiel den Grünen, bestritten wird, die Ängste, die in der Bevölkerung vis-à-vis Osterweiterung sind, ausnützt. Zudem kommt noch das Problem der irischen Neutralität, was auch sehr leicht von dieser kleinen Gruppe von Anti-Nizza-Parteien ausgenutzt werden kann.
Remme: Wo liegt dieses Neutralitätsproblem? Können Sie das erläutern?
Morgenroth: Die Iren sind sehr an ihrer Neutralität interessiert, daran, dass sie auch weiterhin so neutral bleiben, das heißt sie wollen nicht Teil eines Militärblocks werden, und die Anti-Kampagne sagt dem Volk, dass Nizza der erste Schritt auf diesem Weg ist - das heißt, eigentlich der zweite Schritt, aber es wird uns immer als erster Schritt vorgelegt. Und die Iren wollen das einfach nicht. Sie wollen nicht in die NATO eintreten und wollen auch nicht Teil eines größeren Abwehrpakts, zum Beispiel innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, sein. Obwohl, meiner Meinung nach, das in dem Nizza-Vertrag nicht so behandelt wird, sind die Ängste natürlich da und werden sehr leicht ausgespielt. Und wenn man einige Zweifel hat, ist es natürlich immer einfacher, den Status Quo zu wählen.
Remme: Wie begründet denn die Regierung die Tatsache, dass hier ein zweites Mal über die gleiche Sache abgestimmt werden soll? Man hat doch das Nein vom vergangenen Jahr.
Morgenroth: Das stimmt, und das ist auch wiederum eines der Argumente der Anti-Kampagne, dass es ja eigentlich anti-demokratisch ist. Da gibt es allerdings doch einige Änderungen, und zwar gibt es einmal die Sevilla-Deklaration der Staatsoberhäupter, dass sie die irische Neutralität respektieren, und zweitens gibt es in diesem Referendum auch gleichzeitig eine Befragung über eine Änderung des Grundgesetzes, um diese Neutralität noch stärker ins Grundgesetz einzuschreiben.
Remme: Die Wahlbeteiligung - die niedrige Wahlbeteiligung vom vergangenen Sommer -, Herr Morgenroth, wird als Ursache für das Nein ins Feld geführt. Sie gilt auch am Samstag, also morgen wieder als Schlüssel. Wieso scheinen so viele Iren gleichgültig, wenn die Folgen der Entscheidung doch so offenbar weitreichend sind?
Morgenroth: Da gibt es verschiedene Gründe: In den letzten Jahren ist die Wahlbeteiligung in Irland ohnehin bei allen Wahlen relativ niedrig gewesen, weil die Parteienlandschaft zu undurchsichtig wird. Also, die meisten Parteien sehen alle gleich aus und man kann sich nicht festlegen, wofür man wählen will. Dazu kommt: Der Vertrag selbst ist ja auch nicht so leicht zu verstehen, und es ist sehr schwer für die Bevölkerung, sich ein genaues Bild zu machen, zumal ja auch die Kampagnen so organisiert sind, dass sie sich genau gegenüber stehen. Also, wenn man die Plakate hier sieht - die einem sagen: Ihr müsst Ja sagen für Jobs in Irland. Und die anderen sagen: Ihr müsst Nein sagen für Jobs in Irland. Da ist es natürlich sehr schwer für die Bevölkerung, sich ein gutes Bild zu machen und zu entscheiden, wie sie wählen will. Und dann wählt sie überhaupt nicht. Bei der letzten Umfrage kam heraus, dass sich ungefähr 20 Prozent der Bevölkerung immer noch nicht entschieden haben.
Remme: Sie haben eingangs des Gespräches mit Blick auf das vergangene Referendum auch innenpolitische Aspekte angeführt, und es gibt Stimmen, die sagen: Mit Blick auf diese Abstimmung geht es auch weniger um Europa als um die irische Innenpolitik. Stimmen Sie dem zu?
Morgenroth: Ja, da ist wirklich auch was dran, insofern dass wir am 17. Mai dieses Jahres eine Wahl hatten – die Regierung wurde wieder gewählt -, und kurz darauf stellte sich heraus, dass die öffentlichen Finanzen nicht sehr gut in Schuss waren, dass wir Kürzungen, vor allem im sozialen Bereich, dieses Jahr hinnehmen müssen, und die Wähler fühlen sich betrogen. Es ist möglich, dass die Bevölkerung dieses Referendum - denn wir müssen vier Jahre warten bis die nächste Wahl stattfindet, außer wenn die Regierung, die Koalition, in der Zwischenzeit zerbricht - nutzt, um sich an der Regierung zu rächen. Das ist eine Möglichkeit. Ein anderer Grund ist, dass wir hier auch einige Skandale hatten, die die Regierungspartei oder frühere Mitglieder der Regierungspartei und frühere Minister hervorgebracht haben, zum Beispiel Korruption usw..
Remme: Herr Morgenroth, geht es morgen auch um das politische Überleben von Regierungschef Ahern?
Morgenroth: Es ist gut möglich, dass, wenn es ein weiteres Nein gibt, entweder der Außenminister oder Bertie Ahern doch Probleme innerhalb ihrer Partei bekommen werden. Über die letzten zwei, drei Wochen, sind schon kritische Stimmen aus der Fianna Fail, der größeren Regierungspartei, an Bertie Ahern gekommen, was an sich sehr ungewöhnlich ist, denn er hat den Ruf, unberührbar zu sein, und alle Skandale prallen von ihm immer auf andere Minister ab. Jetzt scheint es doch so zu sein, dass er verletzlich ist.
Remme: Edgar Morgenroth war das vom Economic and Social Research Institute in Dublin.
Link: Interview als RealAudio