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Irland
Mein Vater, der Priester

Katholische Pfarrer brechen schon mal den Zölibat - und in Irland bricht ein Tabu: Die Kirche erkennt an, dass es Priesterkinder gibt. Eine neue Richtlinie ermahnt Geistliche, sich um ihren leiblichen Nachwuchs zu kümmern. Vincent Doyle, selbst Sohn eines Priesters, hat dafür gekämpft.

Von Martin Alioth | 25.09.2017
    Ein Priester mit einem Teddybären, der ein Pflaster am Kopf hat
    Die Geheimhaltung der Vaterschaft von Priestern bedeute die bewusste, absichtliche Vernachlässigung eines Kindes, sagte Vincent Doyle im Dlf (imago stock&people/blickwinkel)
    Man schrieb das Jahr 1993, die beliebteste Talkshow des irischen Fernsehens, die "Late Late Show", war damals schon in ihrer 34. Saison. Zu Gast war die Amerikanerin Annie Murphy, die Mutter des 18-jährigen Peter Casey. Dessen Vater, Bischof Eamon Casey, war im Jahr zuvor nach Südamerika geflohen, als seine Beziehung bekannt geworden war.
    Wenn der Bischof seinen Sohn nur zwei- oder dreimal pro Jahr besucht hätte, wäre die Geschichte nie publik geworden, sagte Murphy. - Doch im Publikum saßen Freunde des Bischofs, die Annie Murphy als Lügnerin und als Flittchen beschimpften.
    Der Bischof werde von ihr als Schurke beschrieben, sie selbst überraschenderweise stets als Heldin. - Der Moderator, der legendäre Gay Byrne, stand bedingungslos auf Seiten des Bischofs, der seinen Sohn zur Adoption hatte freigeben wollen, um den Skandal zu vermeiden, und Teile der Diözesankasse veruntreut hatte: Wenn ihr Sohn, sagte Byrne salbungsvoll, nur halb so gut herauskommt wie sein Vater, wird er sich nicht beklagen können. Worauf Annie Murphy entgegnete, sie selbst sei auch nicht schlecht. - Die Episode lieferte gar den Stoff für eine respektlose Ballade der Gruppe The Saw Doctors:
    "Mighty, mighty Lord, Almighty. Off with the collar, off with the nighty, Jesus, Mary and Holy St. Joseph, the beads are rattling now."
    Weg mit dem Priesterkragen, weg mit dem Nachthemd, da rasseln die Perlen des Rosenkranzes.
    Ein Ausdruck klerikalen Herrschaftsanspruchs
    Vincent Doyle bereitet sich eine Tasse Tee zu. Er lebt am Südrand von Connemara, der Landschaft im Nordwesten der Stadt Galway am Atlantikrand. Er kann sich noch gut an jenes Interview erinnern und an den Schock, den es auslöste. Annie Murphy sei wohl die erste gewesen, die dem klerikalen Herrschaftsanspruch in Irland den Todesstoß versetzt habe. Nach dieser Sendung fragten sich die Leute: Hast du das gesehen?
    Vincent Doyle ist der Sohn eines Priesters, J. J. Doyle - eine gängige Abkürzung für die Vornamen John Joe -, der 1995 starb. Vincent war im Glauben, der Priester sei sein Pate. Sie verbrachten fast alle Wochenenden zusammen und waren sich eng verbunden. - Der inzwischen 34-jährige Vincent, ein Psychotherapeut, erinnert sich genau, wann er die Wahrheit erfuhr:
    Es war fünf nach neun Uhr abends, am Samstag, dem 19. Mai 2011. Vincent war 28 Jahre alt. Er kramte in alten Papieren und fand eine Anzahl Gedichte in der Handschrift des Priesters. Er selbst habe sich in seiner Jugend ebenfalls an Gedichten versucht, und er spürte die Übereinstimmung. Da sei etwas eingerastet. Und so fragte er seine Mutter: Er war doch mein Vater, nicht wahr? Eine Träne in ihrem linken Auge habe 28 Jahre des Grübelns aufgelöst.
    "Das Kind erbt ein Opfer, das der Vater hätte erbringen sollen"
    Nie habe er ein derart befreiendes Gefühl erlebt. Er lernte nicht nur seinen Vater kennen, sondern sein ganzes Selbst. - Doyle lässt keine Kritik an seinem verstorbenen Vater zu. Aber er hat sich inbrünstig dem Ziel verschrieben, das Schweigen zu brechen:
    Priester hätten heute Kinder und erzwängen die Geheimhaltung. So erbe das Kind ein Opfer, das der Vater hätte erbringen sollen. Für das Kind bedeute die Schweigepflicht, dass seine Bedürfnisse jenen eines Erwachsenen untergeordnet würden. Das sei die bewusste, absichtliche Vernachlässigung eines Kindes. - Doyle empört sich gegen den Versuch, dergleichen zu tun, es gebe nur eine Handvoll namentlich bekannter Kinder von Priestern.
    Er nennt die irischen Nachnamen, die wörtlich Sohn des Priesters und Sohn des Bischofs bedeuten, und fragt entgeistert, wie man den Tatbestand verleugnen könne. Ironisch fragt er, ob Gott vielleicht schon kahl sei, weil er sich so oft habe die Haare raufen müssen.
    Richtlinien für den Umgang mit Priesterkindern?
    Zugegebenermaßen: Im Frühmittelalter, als die monastische irische Kirche ihre Blütezeit erlebte, vererbten Äbte ihre Würde in der Regeln an ihre Söhne oder Brüder. Doch seit knapp 900 Jahren ist der Zölibat, die priesterliche Ehelosigkeit, verbindlich.
    Die Geheimhaltung schütze nicht nur den einzelnen Priester sondern auch den Zölibat, folgert Doyle. Er habe nichts gegen ein enthaltsames Leben, solange das auch praktiziert werde. Er wende sich gegen die Vorspiegelung der Keuschheit. Immer wieder kommt er auf das Gesamttotal von rund 400.000 katholischen Priestern zurück.
    Ob es denkbar sei, dass die alle keusch seien, fragt er rhetorisch. Dieser Ansatz ist typisch für den unverändert gläubigen Katholiken, der einst ebenfalls das Priesterseminar besucht hatte, sich aber nie ordinieren ließ: er wendet sich nicht gegen den Zölibat aus Prinzip, sondern führt die Unmöglichkeit des Ansinnens ad absurdum. Denn Doyle bleibt dem katholischen Denken treu, er argumentiert systemkonform. Deshalb hat er nicht nur eine Webseite für Priesterkinder eingerichtet, sondern die irische Bischofskonferenz zur Verabschiedung von Richtlinien gebracht, wie Priester mit ihren Kindern umgehen sollten.
    In Kürze will er sich mit dem Präfekten der vatikanischen Kongregation für den Klerus in Genf treffen: Der Vatikan müsse unbedingt dasselbe tun. Doyle zitiert flüssig aus Enzykliken und den Aussagen hoher Prälaten: Er will die Kirche reformieren, nicht bekämpfen, denn: Die Kirche für das Schweigen verantwortlich zu machen, sei, wie wenn man dem Auto die Schuld für einen Unfall gebe. Dabei sei stets der Fahrer schuld. - Diese Nachsicht mit der Kirche als Institution wird kaum allseits Billigung finden.