Montag, 29. April 2024

Archiv


"Irrglaube des Neoliberalismus"

Friedrich Schorlemmer fordert staatliche Eingriffe zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme. Wenn der Markt allein herrsche, führe dies nicht zu Wohlstand. Die sozialstaatliche Tradition Europas müsse erhalten werden. Daran müssten alle Parteien gemeinsam arbeiten. Schorlemmer warnte vor einem Erstarken radikaler nationalistischer Tendenzen. Die Gesellschaft dürfe sich nicht trennen lassen in "noch glückliche Besitzer von Arbeit" und solche "die um Arbeit betteln".

Reinhard Bieck | 30.04.2005
    Bieck: Ein Jahr Ost-Erweiterung der Europäischen Union - morgen ist der Stichtag, Kommissionspräsident Barroso, die Bundesregierung und die deutsche Wirtschaft, etwa in Person von Ludwig Georg Braun, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, DEAK, sprechen von einem großen Erfolg. Na ja, dem wird man in Ländern wie Tschechien, Slowakei oder Lettland gerne zustimmen, aber Friedrich Schorlemmer, Theologe, Bürgerrechtler, Studienleiter an der Evangelischen Akademie Wittenberg: Wer außer Regierung und Unternehmer hat hier in Deutschland denn sonst noch Grund, die Osterweiterung zu feiern? Die rund fünf Millionen Arbeitslosen sind das ja wohl nicht?
    Schorlemmer: Ja, aber zunächst einmal können wir alle uns freuen, dass Europa zusammen gekommen ist und auch dass der 40 Jahre abgetrennte Osten wieder zu Europa gehört. Aber die Angst vieler Leute, dass die billigeren Arbeitskräfte aus dem Osten und auch, dass die günstigeren Bedingungen unter denen dort investiert werden kann, uns schadet, ist in der Tat groß. Ich habe aber den Eindruck, dass die Gewinner von heute, die Verlierer von morgen sein werden, denn ein bloßes gewinnorientiertes Kapital wird weiter abwandern, wenn es dort auch wirtschaftlich besser geht, also wenn es den östlichen Ländern Europas auch besser geht.

    Bieck: Besprechen wir doch mal den wirtschaftlichen Zusammenhang. Wir alle lassen doch Tante Emma bedenkenlos pleite gehen, wenn es bei Aldi was billiger gibt. Wo ist denn da der Unterschied zu einem Unternehmer, der im osteuropäischen Ausland zu, ich sage mal, Aldi-Konditionen produziert? Erst gestern hat zum Beispiel Linde-Kältetechnik angekündigt, 1300 Stellen nach Tschechien zu verlegen. Kann man das der Firma denn überhaupt verdenken?

    Schorlemmer: Ja, die Firmen verhalten sich genauso wie der Einzelne, denn in uns ist ein tiefer Egoismus verankert, dass man zuerst an sich denkt, zugleich aber auch etwas Altruistisches, dass man auch an andere denkt. Und ich glaube das muss dann in einem Staat geregelt werden, der davon ausgeht, dass das Eigentum verpflichtet wird, wie es in Artikel 14 heißt, und dass der Gebrauch zugleich zum Wohle der Allgemeinheit dienen soll. Das muss man offensichtlich auch staatlich regeln, wenn man denn glaubt, dass Gerechtigkeit zu den Kernaufgaben des Staates gehört. Aber richtig ist, dass der Einzelne sich, wenn es um seinen Vorteil geht, sich genauso verhält wie eine große Firma. Es sind ja übrigens auch einzelne Firmen, die dann ungeheuer verdienen können.

    Bieck: Sie sagen, da muss geregelt werden. Aber ist da der Staat mit Gesetzesinitiativen denn am längeren Hebel? Denn die Wirtschaft weicht, wir sehen das, ganz flexibel aus.

    Schorlemmer: Ja wir stehen hier vor einem komplexen Problem, ich würde sogar sagen, vor einem Problem, dass die ganze Welt umstürzt gegenwärtig, nämlich mit den völlig entgrenzten Märkten, wo Waren und Kapital um die Welt herum fluten und es eine anschaubare Verpflichtung nicht mehr gibt, von Menschen, die Kapital irgendwo investieren. Schon vor fünfzig Jahren hat Marx von der gewissenlosen Handelsfreiheit gesprochen und alles sei in eiskaltem Wasser egoistischer Berechnung ertränkt worden. Das ist jetzt Globalisierung. Ich glaube, die Probleme, die wir in Deutschland haben, mit einer auch Konsum gesättigten Welt - wir werden diese Probleme nur noch auch internationaler Ebene, auf europäischer Ebene und auf internationaler Ebene anpacken können, oder wir werden sie nicht lösen. Denn wenn der Markt allein herrscht, allein bestimmt, führt das nicht zurück zum Volkswohlstand. Dieser Irrglaube des Neoliberalismus liegt wohl jetzt zutage.

    Bieck: Na ja, vielleicht bei uns hier in Deutschland. Sie sagen, wenn erst mal der wilde Kapitalismus die Welt regiert, dann verlieren alle. Aber wie ist das denn in Großbritannien, in den USA? Dort geht es ziemlich wild kapitalistisch zu, aber die Amerikaner haben Georg W. Bush wiedergewählt, Tony Blair hat gute Chancen auf eine dritte Amtszeit und die von Kapitalismuskritiker Franz Müntefering geführte SPD verliert im neuesten Politbarometer schon wieder in der Wählergunst auf jetzt 30 Prozent. Ist das denn ein typisch deutsches Problem?

    Schorlemmer: Nein, diese Problem haben wir in Frankreich und in Deutschland, in Ländern, die auf einem ziemlich hohem Niveau, auch von hohen Sozialstandards, bisher gelebt haben und wir werden uns alle darauf einrichten müssen, dass es, glaube ich, erst mal ein Stückchen nicht weiter aufwärts gehen kann. Wir sind auch eine konsumgesättigte Gesellschaft und müssen möglicherweise eine Null-Wachstums-Ökonomie entwickeln. Und was die Vereinigten Staaten anlangt: Also ich wünsche mir einen solchen Kapitalismus, so eine frei Marktwirtschaft wie in den USA, nicht. Ich wünsche mir weiter, dass unsere sozialstaatliche Tradition Europas erhalten bleibt und nicht allein Gewinnmaximierung das Kriterium ist, wo dann einzelne aus Barmherzigkeit helfen. Nein, der Gewinn muss zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Daraus ist Politik zu machen. Das ist Aufgabe aller demokratischen Parteien.

    Bieck: Das hört sich gut an. Es ist nur die Frage, wo man da anfangen soll? Ich verstehe Sie auch so, dass Sie an den Verzicht appellieren. Nur wenn verzichtet werden soll, dann ist einem immer das eigene Hemd am nächsten. Wo fängt man da an?

    Schorlemmer: Es darf nicht sein, dass der Reichtum weniger immer mehr zunimmt, die Armut vieler ebenfalls. Wir müssen sehen, dass wir eine totale Ökonomisierung eines - wie man jetzt heute sagt -kurzatmigen Profithandelns haben, wie Müntefering das genannt hat. Das finde ich auch richtig, wenn wir dem entgegen treten. Und zum Beispiel Managergehälter: die zugleich an die Beschäftigungsentwicklung eines Unternehmens, statt ausschließlich an Aktienkurse und Gewinnmargen zu koppeln. Also ich denke, die Anreize, den Gewinn auch wieder zu refinanzieren, zu re-investieren und für Arbeitsplätze zu sorgen, das muss Aufgabe von Ökonomie sein, es sei denn, wir unterwerfen uns nur dem Gewinnmaximierungskriterium des Marktes oder wir gestalten den Markt so, dass er Gewinn abwirft, aber zugleich auch allen dient, einigen mehr und einigen weniger. Ich bin auch nicht der Meinung, dass wir je wieder anstreben könnten, eine Gleichheit, eine Gleichmacherei. Aber es muss eine gerechte Ungleichheit geben und nicht eine ungerechte Ungleichheit.

    Bieck: Sie haben Jahrzehnte Planwirtschaft erlebt. Sind Sie von der Sozialen Marktwirtschaft enttäuscht?

    Schorlemmer: Nein nicht von der Sozialen Marktwirtschaft, sondern dass wir gegenwärtig nicht dazu in der Lage zu seien scheinen, die Kriterien der Sozialen Marktwirtschaft auf die globalisierten Bedingungen zu übertragen. Das könnte - und da finde ich die Warnung Münteferings auch völlig richtig - das könnte zu einem Akzeptanzverlust unseres demokratischen Systems führen. Das geht hier nicht um Parteipolitik, auch nicht, glaube ich, um Wahlkampf, sondern um die Akzeptanz eines Systems, wo Freiheit der Selbstentfaltung, aber nicht sozial zu unerträglichen Disparitäten führen darf. Da fürchte ich sonst um unsere Demokratie, die sich definiert als sozialer und demokratischer Bundesstaat.

    Bieck: Da höre ich so ein bisschen die Sorge vor dem Erstarken sogenannter starker Männer durch.

    Schorlemmer: Ja, ich habe da eine große Sorge, aber auch davor, dass manche das nationalistisch auslegen können und sagen die Ausländer sind Schuld. Wir werden mit einem ziemlich hohen Sockel an Arbeitslosigkeit leben müssen. Wir müssen uns nur überlegen: Was machen wir mit den Menschen, die keine Arbeit mehr finden und was sollen sie tun? Wir müssen sehen, dass wir die Gesellschaft zusammenhalten zwischen denen, die noch glückliche Besitzer von Arbeit sind und denen, die keine mehr haben, die um Arbeit betteln. Früher war der 1. Mai, den wir ja morgen feiern, ein Tag, wo man für bessere Arbeitsbedingungen kämpfte. Jetzt ist es eher ein Kampf darum, Arbeit zu finden, und was für mich auch heißen würde, Arbeit zu teilen.

    Bieck: Ja, Sie werfen viele Fragen auf Herr Schorlemmer. Haben Sie auch Antworten?

    Schorlemmer: Ich habe jetzt keine Antworten, ich bin auch keine Ökonom. Ich weiß nur, dass wir vor einem sehr großen, komplexen Problem stehen, das nur eine Ökonomie lösen kann, die sich zugleich ethischen Kriterien unterwirft, zugleich ethischen und nicht allein den Gewinnmaximierungskriterien unterwirft.

    Bieck: Wir hören, dass die Kapitalismuskritik von Franz Müntefering der SPD selbst keinen Vorteil bringt, sie sinkt in der Wählergunst noch mal ab, aber 73 Prozent stehen hinter Münteferings Kritik. Wir hören auf der anderen Seite, die Gewerkschaften sind so etwas wie ein Auslaufmodell, aber morgen, Sie haben es gerade erwähnt, feiern wir den 1. Mai. Dann hören wir auch immer, na ja, die Opposition, die können es auch nicht besser. Wie kann man dieser Verzweiflung, dieser Resignation in der Bevölkerung entgegenwirken?

    Schorlemmer: Zunächst einmal denke ich, leben wir in einem ziemlich reichen Land und wir haben so viel Grund zu Klage auch nicht, aber einige sind wirklich im Dunkeln und die sieht man nicht. Für die da zu sein, muss Aufgabe aller Politik sein. Was ich zweitens sagen will: Die SPD hat mit der Politik in den letzten vier/fünf Jahren ganz und gar entgegengewirkt, was Franz Müntefering jetzt sagt, und das glauben die Leute der SPD gegenwärtig nicht mehr, die die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft erleichtert hat und gleichzeitig die Lasten für viele erhöht hat. So erleben das derzeit viele und deswegen glauben sie der SPD nicht, dass sie wirklich aus diesen neuen Maximen, die Müntefering benannt hat, auch Politik macht. Ich will das weiterhin hoffen und sehe, dass auch quer durch die Parteien, etwa beim Arbeitnehmerflügel der CDU auch Leute hier sehr nachdenklich geworden sind, was einen wilden Kapitalismus betrifft. Wir haben zu verteidigen die Soziale Marktwirtschaft. Das muss unser Ziel bleiben. Wie wir das dann erreichen, kann nur zusammen, auch mit der Wirtschaft geleistet werden, und man darf dazu die Wirtschaft auch nicht diffamieren. Auch Franz Müntefering hat übrigens nicht davon gesprochen, von allen gesprochen, sondern gesagt, manche Investoren verhalten sich wie Heuschrecken und fallen anonym, sind anonym und fallen über Unternehmen her und grasen sie ab und ziehen dann wieder ab. Dies muss auf nationaler und internationaler Ebene neu geregelt werden.

    Bieck: Das war Pfarrer Friedrich Schorlemmer. Danke für dieses Gespräch.