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IS in der Türkei
Feind oder Verbündeter?

Lange war die Türkei von Anschlägen durch die Terrormiliz Islamischer Staat verschont geblieben. Dem Land wurde sogar eine Zusammenarbeit mit den Terroristen unterstellt. Der jüngste Anschlagsserie sei die Quittung einer verfehlten Sicherheitspolitik der AKP-geführten Regierung, kritisieren oppositionelle Politiker.

Von Luise Sammann | 01.07.2016
    Eine Zufahrtsstraße im Dunkeln mit Notarzwagen, der auf den Flughafen Atatürk zufährt.
    Die Anschlagsserie in der Türkei wirft Fragen auf: Was ist der IS für die Türkei heute? Feind, Verbündeter oder gelegentlicher Komplize? (dpa /Sedat Suna)
    Öffentliche Verkehrsmittel, Touristenattraktionen, Militärstützpunkte: Eine Liste mit angeblichen IS-Zielen in der Türkei sorgt zwei Tage nach dem verheerenden Anschlag am Istabuler Atatürk-Flughafen weiter für Angst und Schrecken. Die nächste Bombe, so fürchten viele, ist nur eine Frage der Zeit.
    "Ich versuche jetzt, wann immer möglich Menschenansammlungen zu vermeiden", sagt ein junger Istanbuler.
    "Wenn sie selbst gut bewachte Flughäfen angreifen können, dann ist man nirgendwo mehr sicher."
    Enge Kooperationen mit dem IS
    Dabei war die Türkei lange vom IS verschont geblieben. Immer wieder unterstellten Kritiker im In- und Ausland der türkischen Regierung gar eine Zusammenarbeit mit den Terroristen, Gerüchte über Waffen- und Geldlieferungen machten die Runde. Allein im Jahr 2014, so die Oppositionspartei CHP, habe der IS Öl im Wert von 700 Millionen Euro an die Türkei geliefert. Auch, dass in Syrien verwundete Islamisten in türkischen Krankenhäusern behandelt wurden, galt als offenes Geheimnis.
    "Der IS braucht die Türkei, sie dient ihm als logistischer Stützpunkt", so der türkische Nahostkorrespondent Kaya Heyse noch im vergangenen Jahr. Auch deckten sich die Ziele des IS zu Beginn teilweise mit denen der Türkei:
    "Wenn Sie sich ansehen, wen der IS bekämpft, dann gehören die Kurden zu seinen größten Feinden", so Kaya.
    Vor allem aber das Interesse am Sturz des Assad-Regimes sorgte lange dafür, dass die Koalition vielen logisch erschien. Wen wunderte es da schon noch, dass Ex-Premierminister Davutoglu den Begriff "Terroristen" jahrelang vermied, wenn es um die Dschihadisten ging. Stattdessen sprach er verharmlosend von "trotzenden Kindern" oder "rebellierenden Jungs".
    Einsatz der westlichen Anti-IS-Koalition sorgt für Spannungen
    Spätestens aber, seit die Kampfflugzeuge der westlichen Anti-IS-Koalition vom türkischen Lufstützpunkt Incirlik starten dürfen, ist es mit der öffentlichen Verhätschelung vorbei. Tatsächlich greift inzwischen auch Ankara IS-Stützpunkte im Nordirak an. Im Anschluss an Anschläge wie den letzten kommt es regelmäßig zu Großrazzien, bei denen IS-Kämpfer medienwirksam abgeführt werden. Erst gestern früh traf es eine Istanbuler Zelle. All das aber beruhigt jene nicht, die der türkischen Regierung ihren Kurswechsel nie abgenommen haben.
    Der jüngste Anschlag gilt Kritikern als erneuter Beweis dafür, wie viel Bewegungsfreiheit der IS in der Türkei nach wie vor hat. "Die Regierung tut nichts gegen die Terroristen" so Politiker Eren Erdem gestern:
    "Sehen Sie her", schimpfte der Sozialdemokrat, der mit einem Stapel kopierter Geheimdienstberichte im Parlament erschienen war. "In diesem Fall hier hat ein Mann seit dem Jahr 2011 ganze 1.800 Kämpfer von der Türkei nach Syrien gebracht. Er hat sie transportiert, hat sie in Hotels in Grenznähe untergebracht usw. All das wurde von unserem Geheimdienst registriert. Aber kein einziger Einsatz ist daraus erfolgt!"
    Was also ist der IS für die Türkei heute, Feind, Verbündeter oder gelegentlicher Komplize?
    "Die Regierung ist in dieser Frage selbst unentschlossen", glaubt der Istanbuler Nahostexperte Sedat Laciner.
    "Die Priorität der Türkei ist immer noch, die Kurden zu stoppen und das Assad-Regime in Syrien zu stürzen. Der Kampf gegen den IS kommt erst danach. Lange Zeit hat man deswegen ignoriert, wie sich die Gruppe hier organisiert hat – und dabei scheinbar nicht durchdacht, was passiert, wenn das Monster wächst und sich am Ende gegen uns selbst richtet. Die IS-Politik der Türkei ist voller Gegensätze und Inkonsequenzen."