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Is was?! Aufreger der Woche
Neu ist nie normal

Abstandsmarkierungen vor Läden, Maskenauflauf in Fußgängerzonen: "Neue Normalität" nennt man das. Ist aber viel mehr. Nämlich ein Wendepunkt. Und eine Frage hätte unser Kolumnist Stefan Reusch gerne beantwortet: Ist das Leben wirklich das Höchste aller Güter? Oder doch nur eine Empfehlung?

Von Stefan Reusch | 30.04.2020
Eine Crashtestpuppe sitzt nach einer Frontalkollision mit einem anderen PKW hinter zerborstetem Glas und Metall in einem Versuchsfahrzeug.
"Eine verantwortungsvolle Normalität" empfiehlt Armin Laschet, und Stefan Reusch sieht uns schon - im übertragenen Sinne - durch Windschutzscheiben fliegen (Tobias Kleinschmidt/dpa)
Jetzt gibt es hier die sogenannte "neue Normalität". Das ist Quatsch und macht Angst. Weil das Neue nun mal nicht normal ist, sonst wär es ja nicht neu. Es klingt alles paradox, als bedrohe uns die Politik geradezu mit Lockerungen.
80 Millionen Epidemiologen
Die Schulen öffnen! Nur ein bisschen, aber immerhin. Voller Stundenplan-Schule, das wäre ja nicht normal. Nur neu. Klar, man kann ja nicht mit der Öffnung der Schulen warten, bis da die hygienischen Mindeststandards erfüllt sind. Das wäre ja nie - frühestens!
Homeschooling ist aber auch nicht viel schlechter als Schoolschooling. Wir sind ja alles Lernende. Binomische Formeln - nie kapiert, jetzt unterrichte ich sie. Wir lernen also alle dazu! Jede Menge neuer Begriffe: Verdopplungszeit, Reproduktionszahl - ja, wir sind Fachkräfte. Ungelernt. Egal. Das ist neue Normalität. Wir sind Virologen, Epidemiologen. Die Aussprache ist schwer, die Ausbildung nicht. Die haben 80 Millionen Deutsche locker geschafft.
Ja, das Virus ist in aller Munde. Nein, das ist es nicht. Noch nicht. Aber dazu schickt man uns ja jetzt aus der unverschuldeten Unmündigkeit heraus, in die weite Welt hinein. So geht neue Normalität. Der NRW-Ministerpräsident Laschet spricht sogar von "verantwortungsvoller Normalität".
Wirtschaft hochfahren oder das noch miterleben?
Also: Abstand halten, Hände waschen, Rücksicht nehmen - das alles wird nicht befohlen, es wird empfohlen. Dem verantwortungsvollen Bürger. In der Hoffnung, es gibt ihn. In der alten Normalität war er nicht sehr verbreitet.
Ernsthaft: Gäbe es im Auto keine Gurt-Pflicht, nur eine Gurt-Empfehlung - wir würden alle noch durch Windschutzscheiben fliegen. Und hätte man uns nicht zum Maskentragen verdonnert, wir würden kein Blatt vor den Mund ... klemmen.
Grob gesagt gibt es zwei Parteien: Die einen wollen die Wirtschaft hochfahren, die anderen würden das gerne noch miterleben. Beides ist menschlich. Offen bleibt, ob jeder, der die neue Normalität mit sich bereichern will, auch einer verantwortungsvollen Normalität gewachsen sein wird.