Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Isabela Figueiredo: "Roter Staub"
Wenn der Vater ein Rassist ist

Isabela Figueiredo hat ein autobiografisches Buch über das Ende der portugiesischen Kolonialzeit in Mosambik geschrieben. In Portugal hat es vor zehn Jahren eine hitzige Debatte über Kolonialismus und Rassismus ausgelöst. Jetzt liegt das Buch auf Deutsch vor.

Von Tilo Wagner | 08.01.2020
Die Schriftstellerin Isabela Figueiredo und ihr Buch „Roter Staub. Mosambik am Ende der Kolonialzeit"
Isabela Figueiredos Buch über ihren Vater ist auch eins über den portugiesischen Kolonialismus (Foto: privat, Buchcover: Weidle Verlag)
"Kein anderes Buch hat die nackte und brutale Wahrheit über den portugiesischen Kolonialismus in Mosambik so herausragend beschrieben," notierte der bekannte portugiesische Philosoph José Gil in einem Vorwort zu Isabela Figueiredos "Cadernos de Memórias Colonias". Als die portugiesische Originalausgabe im Jahr 2009 erschien, löste das Buch in Portugal einen Skandal aus. Bis dahin waren die Memoiren und Romane portugiesischer Autoren über das Ende der Kolonialzeit in Afrika geprägt von viel Melancholie, Romantik und einer teilweise naiven Sehnsucht nach der "schönen, verlorenen Zeit". Isabela Figueiredo, die in Mosambik geboren wurde und bis zu ihrem 14. Lebensjahr in der ehemaligen portugiesischen Kolonie in Südostafrika lebte, weiß, woher der verklärende Blick auf die 60er und 70er Jahre kommt:
"Diese Bücher schauen durch eine rosarote Brille auf Afrika – und das, was sie sehen, ist teilweise wahr. Denn das Leben der weißen Portugiesen in Afrika war wirklich wunderbar. Es war das Paradies. Ein Leben im Freien, in einer üppigen Natur, die uns alles gab, was wir brauchten. Für uns Portugiesen war Afrika so, als ob wir in Kalifornien oder Amerika leben würden. Portugal war zu jener Zeit ein sehr armes Land. Aber in Mosambik oder in Angola genossen wir Portugiesen einen Wohlstand, der schon fast so war wie in den reichsten Staaten der Welt."
Ein neues Leben in Mosambik
In diesem "Paradies" lebte ein Mann, der in Figueiredos autobiografischem Buch zum Protagonisten der Geschichte wird: ihr eigener Vater, ein Elektriker, der mit 30 Jahren die erdrückende Armut in der portugiesischen Provinz hinter sich lässt, um in Mosambik ein neues Leben zu beginnen. "Roter Staub" ist Figueiredos ganz persönlicher Blick auf ihre Kindheit und Jugend als Einzelkind einer portugiesischen Familie zum Ende der Kolonialzeit in Afrika.
Als sie die deutschen Übersetzung ihres Buches in Lissabon zum ersten Mal in den Händen hält, muss sie schlucken: Auf dem Cover die mosambikanische Nationalflagge mit dem markanten Symbol der kommunistisch beeinflussten Befreiungsbewegung FRELIMO – ein Buch, eine Sichel, ein Maschinengewehr. Die Flagge gibt es so erst seit 1982 – da hatte Figueiredo Afrika schon lange verlassen und sammelte als junge Frau in Lissabon bereits ihre ersten Erfahrungen im Journalismus. Viel schlimmer für sie ist jedoch, dass das Cover der deutschen Ausgabe einen falschen Eindruck erweckt: Es geht in "Roter Staub" nicht um die politische Befreiung Mosambiks, sondern vor allem um Figueiredos Vater – eine vielschichtige Figur, in der sich die ganze Komplexität und die beißenden Gegensätze eines Lebens zwischen dem sogenannten "Paradies" der Kolonialherren und ihrem brutalem Rassismus wiederspiegeln.
"Seit ich mit dreizehn Jahren Mosambik verlassen habe, wollte ich über den Kolonialismus schreiben. Ich wusste damals natürlich nicht, wie man so eine Geschichte schreibt, aber ich wollte sie erzählen. Denn es gibt so viel darüber zu sagen? Das Buch hatte ich also über Jahrzehnte im Kopf, aber ich konnte es erst nach dem Tod meines Vaters aufschreiben, weil ich ihn nicht verletzen wollte."
"Die Negerinnen hatten weite Fotzen, und das erklärte, weshalb sie ihre Kinder auf diese besondere Weise bekamen, mit dem Gesicht nach unten, ganz der Erde zugewandt, wo auch immer, wie die Tiere. Die Fotze war weit. Die der weißen Frau nicht, die war eng, weil die weißen Frauen kein leicht zu erlegendes Wild waren, denn zu der geheiligten Fotze der weißen Frau war nur der des Ehemanns vorgedrungen, und auch das nur selten und unter Mühen; sie waren sehr eng, folglich sehr ehrbar, und das sollten die anderen ruhig wissen. Sie beschränkten sich auf die Erfüllung ihrer ehelichen Pflicht, stets unter Opfern, weswegen der Koitus schmerzhaft und zu vermeiden war, und eben deshalb gingen die Weißen zu der Fotze der Negerinnen. Die Negerinnen waren nicht ehrbar, die Negerinnen hatten weite Fotzen, und sie stöhnten laut, denn diese Schlampen mochten das. Sie waren eben nichts wert."
Knallharte Sprache
Gleich zu Beginn ihres Buches schockiert Isabela Figueiredo ihre Leser mit einer knallharten Sprache.
"Ich weiß genau, wie ein Rassist spricht. Ich kenne das gesamte Vokabular. Es steckt in meinem Kopf. Denn das war es, was ich die ganze Zeit gehört habe. Natürlich ist das grauenhaft. Es blieb in mir, weil alles so gewaltsam und so prägend war. Und das ist auch mein persönliches Trauma."
Figueiredo schildert eindrucksvoll, wie sie langsam aus ihrer scheinbar unbeschwerten Kindheit erwacht. Sie nimmt die Armut der schwarzen Kinder wahr, die strenge Hierarchie, die alltägliche Diskriminierung. Dabei verändert sich auch der Blick auf den geliebten Vater, der jetzt nicht mehr nur seine Tochter und Frau im alten Bedford-Lieferwagen durch das Land spazieren fährt, sondern seine schwarzen Angestellten drangsaliert, missbraucht und willkürlich verprügelt.
"Von allen Seiten strömen Leute herbei, Hunde, Hühner, verschreckte Ziegen. Schon ist da ein nervöser kleiner Junge im Schilf. Der Weiße ist reingegangen, hat den Ernesto verprügelt, jetzt geht er wieder, das Mädchen hat der Weiße mitgebracht, es ist die Tochter vom Weißen. Und der weiße Mann, der mich im Flug an der Hand führt, durchquert rasch das Schilf, sucht den Bedford, den er dort draußen abgestellt hat, setzt sich, lässt den Motor an, fährt los, schaut zu mir her: ,Na, bist du müde, willst du ʹne Coca Cola? Oder von meinem Penalti probieren.' Ich schaue ihn an, antworte nicht. Dieser Mann ist nicht mein Vater."
Bruch mit dem friedlichen Mythos
Das Buch "Roter Staub" bricht mit einem Mythos, der sich bis heute in Teilen der portugiesischen Gesellschaft hält: die Vorstellung, dass Portugal keine aggressive Kolonialmacht gewesen sei, sondern ein friedliches, tolerantes Nebeneinander zwischen Weißen, Mulatten und Schwarzen ermöglicht habe. Tatsächlich gab es in Mosambik keine rigorose, gesetzlich festgehaltene Rassentrennung wie im Apartheid-System des Nachbarlandes Südafrika. Doch Figueiredos Buch zeigt, dass dadurch ein weißer Portugiese wie ihr Vater eine fast absolute Macht besaß: Er war überall der Herr im Haus. Wie und wann sich Gewalt und Rassismus manifestierten, hing vielfach nur von der Laune eines weißen Elektrikers ab.
Im zweiten Teil des Buches wendet sich das Blatt. Im April 1974 beendet die sogenannte Nelkenrevolution das autoritäre Regime in Portugal. Den Kolonien wird die Unabhängigkeit versprochen, der Truppenabzug beginnt. In Mosambik werden Isabela Figueiredo und ihre Familie Zeugen einer anderen Form von Gewalt: Die Unabhängigkeitsbewegung FREMILO dringt in die Hauptstadt vor, es kommt zu Plünderungen und Gewaltverbrechen an den portugiesischen Siedlern. Das 13-jährige Mädchen Isabela wird nach Lissabon ausgeflogen und wächst bei der verarmten Familie in der Provinz auf, die Eltern bleiben noch gut zehn Jahre in Mosambik. Der Vater gibt seiner Tochter eine wichtige Botschaft mit:
"Du musst einen Beruf haben, der es dir erlaubt, dein Leben zu leben, mit Kindern oder ohne, und ohne von einem Mann abhängig zu sein. Ohne dass du jemandem auf der Tasche liegst. Du musst selbst über dein Leben bestimmen. Frei sein."
Der Rassist wird Feminist
Auch das ist ein Aspekt in diesem komplexen Buch: Der rassistische Protagonist wird plötzlich zum Feministen, wenn er an die Zukunft seiner Tochter denkt.
"Das ist das Paradoxe an meinem Vater gewesen. Er hat mir den Zugang zur besten Bildung ermöglicht. Aber er hat nicht verstanden, dass er dadurch seine eigene Tochter zu seinem ärgsten Widersacher macht. Dank meines Vaters hatte ich irgendwann alle Werkzeuge in der Hand – in psychologischer, emotionaler, humaner Hinsicht. Und ich war ihm plötzlich so überlegen, dass er seine Haltung nicht mehr zu verteidigen wusste."
Hier liegt die Stärke von "Roter Staub": Indem Figueiredo ihren Vater als einen starken, vielseitigen, widersprüchlichen Charakter zeichnet, gewinnt er eine große Glaubwürdigkeit. So wird der alltägliche Rassismus in den portugiesischen Kolonien greifbar. Dass Figueiredos Buch dem deutschen Leser nun in einer gelungen Übersetzung vorliegt, erweitert die Perspektive auf ein dunkles Kapitel der afrikanischen Geschichte.
Isabela Figueiredo: "Roter Staub. Mosambik am Ende der Kolonialzeit"
Aus dem Portugiesischen von Markus Sahr
Weidle Verlag, Bonn. 172 Seiten, 23 Euro.