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Islam
Islamische Extremisten und ihre Angst vor Homosexualität

Schwule und Lesben zerstören islamische Gesellschaften - davon sind nicht nur Islamisten überzeugt. Die vorherrschende Lehre im Islam ist eindeutig: Das Ausleben von Homosexualität ist verboten. Nun sagen Islamwissenschaftler: Homophobe Haltungen im Islam sind eine modernistische Entgleisung.

Von Thorsten Gerald Schneiders | 12.08.2015
    Zwei Männer halten sich an den Händen fest.
    Homosexuelle Verbindungen stellen die gesellschaftliche Ordnung der Salafisten infrage. (imago/Medicimage)
    "Wenn ein Mann mit einem anderen Mann geschlechtlich verkehrt, ist das ein äußerst übler Akt der Unzüchtigkeit und ein abscheuliches Verbrechen."
    So wird Muhammad Ibn Uthaymîn zitiert. Bis zu seinem Tod im Jahr 2001 war er Mufti in Saudi-Arabien und einer der zentralen fundamentalistischen Vordenker des Islams.
    Die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Liebesbeziehungen ist fester Bestandteil islamisch-fundamentalistischer Strömungen. Etwa im Salafismus. Salafisten geben vor, sich am Koranverständnis der ersten drei Generationen von Muslimen zu orientieren.
    Traditionelles Familienbild im Salafismus
    Im Salafismus wird ein traditionelles Familienbild vertreten – und zwar deutlich konsequenter als in nicht-fundamentalistischen, konservativen Strömungen. Der Mann sorgt für den Unterhalt der Familie und trägt nach außen die Verantwortung für Sitte, Anstand und religiös korrektes Verhalten seiner Angehörigen. Die bis zu vier möglichen Ehefrauen kümmern sich um die Kinder und den jeweiligen Haushalt. Homosexuelle Verbindungen werfen dieses Familienbild durcheinander. Sie stellen die gesellschaftliche Ordnung der Salafisten infrage – insbesondere die Rolle des Mannes als Familienoberhaupt.
    Salafistische Gruppen zeichnet zudem ein starkes Gemeinschaftsgefühl aus. Es wird nicht diskutiert, es wird nicht hinterfragt. Es wird gehorcht. Bekennende Homosexuelle gefährden diese Konformität schon allein dadurch, dass sie anders sind.
    Unter gewaltbereiten und politisch aktiven Salafisten kommt ferner die Kategorie des Kampfes hinzu. Und Homosexualität gilt hier als Schwächung der Manneskraft.
    Auch die wohl bekannteste Figur des deutschen Salafismus, der Konvertit Pierre Vogel, hat sich der Frage gewidmet: "Wie gehen wir mit homosexuellen Menschen um?" In einem der unzähligen YouTube-Videos, mit denen er und seine Anhänger das Internet fluten, erklärt er:
    "Im Islam ist ganz klar, dass homosexueller Geschlechtsverkehr verboten ist, harâm, das ist eine Sache, die nach Konsens der Gelehrten verboten ist."
    Vorherrschende Lehre im Islam ist eindeutig
    Die vorherrschende Lehre im Islam ist eindeutig: Das Ausleben von Homosexualität ist verboten. Es gibt vier Rechtsschulen im sunnitischen Islam: die hanafitische, die malikitische, die schafiitische und die hanbalitische. Alle vier sehen es so.
    Argumentiert wird primär mit der Geschichte des Propheten Lot, die auch aus der Bibel bekannt ist: Lot wird nach Sodom geschickt, um dort gegen das vermeintlich schändliche Verhalten der Bewohner einzutreten. Doch diese weisen den Gesandten zurück. Daraufhin werden sie von Gott vernichtet. In Koransure 7 heißt es:
    "Und wir haben den Lot als unseren Boten gesandt. Damals, als er zu seinen Leuten sagte: 'Wollt ihr denn etwas Abscheuliches begehen, wie es noch keiner von den Menschen in aller Welt vor euch begangen hat? Ihr gebt euch in eurer Sinnenlust wahrhaftig mit Männern ab, statt mit Frauen. Nein, ihr seid ein Volk, das nicht maßhält.'"
    Aber es gab immer schon Stimmen, die die Authentizität der herangezogenen Quellen angezweifelt haben. Und Steinigungen in klassisch-islamischer Zeit, also vor dem Jahr 1800, sind kaum dokumentiert, sagt der Münsteraner Islamwissenschaftler Thomas Bauer:
    "Es gibt auch aus der gesamten Geschichte, also aus über 1000 Jahren, allenfalls zwei, drei, vier bezeugte Fälle, in denen tatsächlich wegen Ehebruchs gesteinigt worden ist. Irgendein Fall wegen gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen, der bestraft worden ist, ist mir überhaupt kein einziger Fall bekannt, wenn dann handelt es sich immer um Vergewaltigungstatbestände etc."
    Den Grund dafür, dass die Steinigung von Homosexuellen nie umgesetzt wurde, sieht Bauer darin, "dass die Hindernisse, die man davor gesetzt hat, diese Strafen auch umzusetzen, so groß sind, dass bei einer strengen Handhabung des islamischen Rechts die Verhängung solcher Strafen eigentlich unmöglich ist."
    Das legt nahe, dass es sich bei den drakonischen Strafen im Koran vor allem um drastische Warnungen an die Menschen handelt – und nicht um tatsächlich zu vollstreckende Strafen.
    Anders als homosexuelle Handlungen von Männern spielen lesbische Verbindungen im islamischen Recht eine geringe Rolle, so Thomas Bauer:
    "Das ganze islamische Recht hat sich in patriarchalischen Gesellschaften entwickelt. Und in patriarchalischen Gesellschaften ist wichtig, was der Mann macht. Es hat die Männer nicht so sehr interessiert, was die Frauen miteinander machen."
    Die klassisch-islamische Theologie ist sich weitgehend einig, was das Verbot von Homosexualität betrifft. Das heißt aber nicht, dass alle Muslime diesen Vorgaben folgen. Im Gegenteil: Es gibt wohl kaum eine Kultur, in der die homoerotische Liebe so inbrünstig thematisiert wurde wie in der arabisch-islamischen. Eine ganze Gedichtform ist geprägt von Liebe, Wein und Homoerotik: die Ghaselen.
    Homoerotische Gedichte in der islamischen Literatur
    Kurz und provokativ gesagt: Der Islam war kein Hindernis dafür, dass ein Mann mit Versen über homoerotisches Verlangen zu einem der größten Poeten der islamischen Geschichte werden konnte: Hâfiz – jener Dichter aus dem heutigen Iran, der im 14. Jahrhundert gelebt und der später unter anderem Johann Wolfgang von Goethe inspiriert hat – etwa zu dessen West-Östlichen Diwan.
    Viele große Gestalten der islamischen Geschichte verstanden sich als Freigeister, waren dem Libertinismus und Hedonismus zugetan. Und das nicht erst seit Hafiz. Schon 500 Jahre zuvor, im Umfeld des legendären Kalifen Harun al-Raschid an der Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert, wird Abu Nuwas zu einem der berühmtesten Dichter der arabischen Welt. Und Abu Nuwas lässt kaum einen Zweifel daran, was ihn erregt:
    "Im Bade wird dir das sonst durch die Hosen Verborgene sichtbar.
    Du siehst einen Hintern, der durch seine Fülle einen Rücken von
    äußerster Schlankheit in den Schatten stellt.
    Sie flüstern sich gegenseitig: 'Gott ist groß' und 'Es gibt keinen Gott außer Allah' zu.
    Auf! Wie trefflich ist das Bad unter den Orten, die alles deutlich zeigen."

    Nicht nur Berufspoeten griffen Homosexualität auf. Der angesehene hanbalitische Jurist Ibn al-Dschauzi zeigte sich im 12. Jahrhundert überzeugt:
    "Derjenige, der behauptet, dass er keine Begierde empfindet, wenn er einen schönen Jungen betrachtet, ist ein Lügner."
    Selbst im Koran lassen sich homoerotische Gedanken finden. In Sure 52 wird beschrieben, was Gläubige im Paradies erwartet:
    "Ein Kreis von Jünglingen, so schön wie Perlen in ihren Muscheln verborgen, wird ihnen aufwarten."
    Entwicklung von Vorurteilen
    Schon früh trieb das Thema 'Homosexualität und Islam' auch die Menschen in Europa um. Es entwickelten sich rasch Vorurteile – allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Muslimen wurde nicht Homophobie unterstellt, sondern dass Homosexualität bei muslimischen Männern verbreitet sei.
    Einst homoerotische Texte – nunmehr homophobe Tendenzen: In der islamischen Welt muss es offenbar einen massiven Umbruch gegeben haben. Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer markiert diesen Zeitpunkt so:
    "Es hat sich eine Elite herausgebildet, die ganz stark auf europäische Werte, auf europäische Normen zurückgriff. Also, es waren europäische Normen, die auf einmal das in einem ganz anderen Licht sahen. Und deshalb hören so ab den 1850er Jahren homoerotische Gedichte in der arabischen Literatur auf."
    Inzwischen gibt es Ansätze, Islam und Homosexualität theologisch in Einklang zu bringen: Sie verweisen darauf, dass jene Quellentexte, die zur Ablehnung von Homosexualität angeführt werden, nicht eindeutig seien. Auch ihre Historizität sei nicht belegbar.
    Und es gibt praktische Ansätze, Islam und Homosexualität auch praktisch zu versöhnen: In Paris gründete Ludovic-Mohamed Zahed 2012 eine Moschee für Lesben und Schwule. Zahed war früher Mitglied einer salafistischen Gruppe in Algerien. Ähnliche Moscheeprojekte wie das von Zahed gibt es in den USA. Auch in Deutschland gibt es Gemeinden, die offen sind für Schwule – zum Beispiel unter dem Dach des Liberal-Islamischen Bundes.