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Islam
"Türkei fällt zunehmend als Partner aus"

In der Auseinandersetzung mit islamischem Extremismus sieht Cem Özdemir die Moschee als entscheidenden Ort der Orientierung. Von hier aus würden sich Jugendliche radikalisieren, sagte der Grünen-Politiker im DLF. Von der Türkei erwartet er er kaum mehr Impulse.

Cem Özdemir im Gespräch mit Dirk Müller | 13.01.2015
    Cem Özdemir, Co-Vorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen
    Cem Özdemir, Co-Vorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen (dpa / Bernd von Jutrczenka)
    In der Türkei werde die Trennung von Staat und Kirche zwar weitgehend akzeptiert. "Umso bedauerlicher ist es, dass die gegenwärtige Führung der AKP-Regierung unter Staatspräsident Erdogan und der AKP-Regierung das Schritt für Schritt in Frage stellen, relativieren und leider auch abbauen. Damit fällt die Türkei zunehmend aus als ein wichtiger Partner, was die Modernisierung des islamischen Welt angeht." Es gebe Fans von ihm - "aber Menschen, die ihn stark ablehnen".
    In Deutschland müsse sich die Religion nicht verstecken und spiele eine wichtige Rolle, aber entschieden werde in der Politik. In fast allen Moscheen in Deutschland seien junge Leute in der Führung, die gut Deutsch können. "Aber - auch das gehört zur Realität: Wir sehen, dass sich aus den Moscheen heraus Jugendliche radikalisieren, verloren gehen, auch ihren Eltern. Ohne Moscheen werden wir diese Auseinandersetzung, wohin die sich die Jugendlichen orientieren, verlieren."

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Wie stark müssen wir trennen zwischen Islam, Islamismus und Terror? Was haben die Dschihadisten mit dem Islam zu tun, mit der muslimischen Welt? Gehört beides zusammen? Oder hat dieser Terror mit dieser Religion gar nichts zu tun, wie vielleicht die IRA oder auch die ETA mit dem Christentum? Oder auch passt das zusammen, der Westen und der Islam? Viele Fragen, unangenehme Fragen irgendwie. Dürfen diese so im Westen gestellt werden, offen diskutiert werden, ohne gleich islamfeindlich zu sein, ohne gleich Fremdenhass zu schüren? - Darüber sprechen wollen wir nun mit Grünen-Chef Cem Özdemir. In seiner Biografie hat er über sich selbst geschrieben: "Ich bin deutscher Staatsbürger türkischer Herkunft. Das Schwäbische ist mir noch näher als das Deutsche. Und mit der türkischen Herkunft ist es ebenfalls so einfach nicht. Auch Einwanderer trifft den Kern nicht, denn ich bin zwar gut zu Fuß, aber ich bin nie eingewandert, sondern hier geboren." Cem Özdemir ist jetzt bei uns am Telefon. Guten Morgen!
    Cem Özdemir: Guten Morgen, Herr Müller!
    Müller: Herr Özdemir, sind Sie religiös?
    Özdemir: Ich bin nicht praktizierend.
    Müller: Sie gehen nicht in die Moschee?
    Özdemir: Doch, um dort zu diskutieren, um Gespräche zu führen, so wie ich auch in eine Kirche gehe. Ich habe demnächst sogar eine Fastenpredigt im Schwäbischen und ich gehe auch in Synagogen und ich gehe auch in alevitische Cem-Häuser, um dort mit den Leuten zu diskutieren.
    Müller: Wenn Sie in die Moschee gehen, ist das anders?
    Özdemir: Inwiefern?
    Müller: Sind Sie betroffen?
    Özdemir: Nicht mehr, als wenn ich in ein anderes Gotteshaus gehe. Ich gehe mit Respekt dorthin, mit Respekt vor allen Gläubigen, den ich von meinen Eltern vermittelt bekommen habe, und nehme das ernst, dass Menschen religiös sind, und diskutiere mit ihnen. Ich gehe nicht dorthin, um zu beten. Ich gehe dorthin, um mit den Menschen zu diskutieren, das Gespräch zu suchen. Das ist ein Ort, wo sich viele Menschen versammeln. Die Moschee hat ja im Islam noch mal einen anderen Charakter wie vielleicht die Kirche heutzutage bei uns. Die Moschee ist ja auch ein Ort, in den man beispielsweise, gerade wenn man älter geworden ist, hingeht, um Gemeinschaft zu suchen, um Tee zu trinken, um mit anderen zusammenzukommen. Insofern ist es auch ein Ort, wenn man die Menschen erreichen möchte.
    "Religion und Staat trennen"
    Müller: Sie können das ganz rational trennen, Kirche, Religion, Moschee und Staat? Das ist für Sie gar kein Problem?
    Özdemir: Ich empfehle es, dass wir Religion und Staat voneinander trennen. Das hat, glaube ich, die Aufklärung nicht nur mit sich gebracht, sondern das hat uns insgesamt gut getan. Das heißt nicht, dass das Religiöse sich zurückziehen muss vollständig ins Private. Wir leben ja in einem Land, das ein säkulares Land ist. Das heißt, die Religion muss sich nicht verstecken. Aber es muss klar sein: Die Entscheidungen werden von der Politik getroffen und die Religionsgemeinschaften bei uns wirken mit, sie haben eine wichtige Rolle, aber entschieden wird in der Politik und das darf man nicht miteinander vermischen. All die Länder, die das tun, haben auch mehr oder weniger große Probleme, wenn sie das vermischen.
    Müller: Herr Özdemir, wenn Sie in Moscheen sind, tun das auch die Muslime, die Sie dort treffen, die Trennung?
    Özdemir: Ich habe das Gefühl - in der Türkei gibt es ja den Laizismus und die Mehrzahl der Muslime in Deutschland kommen ja aus der Türkei -, die haben die Trennung von Staat und Religion schon mehr oder weniger akzeptiert. Umso bedauerlicher ist, dass die gegenwärtige türkische Führung unter Staatspräsident Erdogan und der AKP-Regierung das doch Schritt für Schritt in Frage stellen, relativieren und leider auch abbauen. Das ist für mich sehr bedauerlich, denn damit fällt die Türkei zunehmend aus als ein wichtiger Partner, was die Modernisierung der islamischen Welt angeht.
    Müller: Das sind die politischen Dimensionen. Hat das, was Erdogan hier sagt, oder was der neue türkische Ministerpräsident gestern in Berlin im Tempodrom gesagt hat, hat das unmittelbare Auswirkungen auf die Gläubigen, auf die Türken, auf die jungen Türken?
    "Einwanderer primär als Arbeitskräfte betrachtet"
    Özdemir: Auf einen Teil, nicht auf alle. So wie in der Türkei ist auch hier das so, dass der türkische Staatspräsident und sein Ministerpräsident polarisieren. So wie es große Fans gibt, gibt es auch das Gegenteil: Menschen, die ihn sehr stark ablehnen.
    Müller: Haben Sie Radikalisierung in irgendeiner Form feststellen können in den Gesprächen?
    Özdemir: Was es zweifelsohne gibt - das ist sehr bedauerlich - ist, dass es bei manchen doch ein hohes Maß an Unkenntnis gibt über die Gesellschaft, in der man lebt. Das hat auch was damit zu tun, dass wir die Einwanderer, die zu uns gekommen sind, ja in erster Linie als Arbeitskräfte betrachtet haben und nicht als künftige Bürger, künftige Mitbürger, künftige deutsche Staatsbürger, die man natürlich auch vorbereiten muss auf das Leben, das sie hier führen. Und übrigens meine ich mit dem Vorbereiten nicht nur die Vermittlung von Deutschkenntnissen, sondern ich meine damit auch, dass man weiß, dass die Bundesrepublik Deutschland eine parlamentarische Demokratie ist, dass man beispielsweise weiß, zumal wenn man aus einem Land kommt, das doch sehr zentralistisch organisiert ist, dass wir hier einen föderativen Staatsaufbau haben, was eine unabhängige Presse ist, was ein unabhängiges Gericht ist, bis zu der Frage, wie bei uns die sozialen Sicherungssysteme funktionieren, dass da ja auch manches anders ist wie im Herkunftsland, dass man manche Dinge selber organisieren muss und Vorkehrungen treffen muss.
    Müller: Aber für Millionen gibt es ja dieses Herkunftsland gar nicht. Das ist ja Deutschland. Warum gibt es trotzdem dort die Problematik, dass man nicht so richtig unterscheiden kann, unterscheiden will?
    Özdemir: Na ja. Die erste, zweite, dritte und mittlerweile auch vierte Generation leben ja nun nebeneinander her. Nach wie vor gibt es ja die Menschen in großer Zahl, die damals eingewandert sind über die sogenannten Anwerbeabkommen. Deren Integration war zu keinem Zeitpunkt vorgesehen. Und vergessen wir mal nicht: Wir reden ja nicht von 40, 50 Jahren Einwanderungsgeschichte, sondern wenn wir ehrlich sind, reden wir über zehn, 20 Jahre Einwanderungsgeschichte. Davor gab es de facto ja eigentlich nur, war vorgesehen, dass die Menschen kommen und irgendwann wieder gehen. Dass wir das realisiert haben, dass sie bleiben werden, das hat beispielsweise auch was damit zu tun, dass ab dem 1.1.2000 das Staatsangehörigkeitsrecht geändert wurde. Also insofern: Beide Seiten, sowohl die Einwanderer als auch die Aufnahmegesellschaft, hatten am Anfang nicht wirklich gewusst, worauf sie sich einlassen.
    Müller: Ihre Eltern oder Ihre Familie hat das ja auch geschafft. Warum hat das da funktioniert?
    Özdemir: Meine Eltern kommen auch aus mehr oder weniger einfachen Verhältnissen. Mein Vater hat nur die Grundschule drei Jahre besucht. Danach konnte er nicht mehr. In dem Dorf gab es sowieso keine Schule und im Winter gab es kein Durchkommen zur Schule und dann ist sein Vater gestorben, dann musste er arbeiten. Meine Mutter hat die Schule besucht, aber danach musste sie auch arbeiten. Aber sie hatten einen hohen Bildungsethos, das was viele Einwanderer auszeichnet, dass man nämlich will, dass es den Kindern eines Tages mal besser geht und dafür hart arbeitet und bereit ist, alles zu tun. Aber zum alles tun gehören viele tolle Dinge, aber es gibt natürlich auch ein paar Grenzen.
    Wenn man die Sprache nicht gut kann - das kann man halt nun mal nicht, wenn man aus einem anderen Land kommt -, dann ist es wichtig, dass die Kinder möglichst früh mit Leuten zusammenkommen, die die Sprache gut können, also auf den Kindergarten gehen, in die Schule gehen und dort die Sprache erlernen können. Ich hatte das Glück, dass ich in einer schwäbischen Kleinstadt aufgewachsen bin mit Kindern griechischer, portugiesischer und natürlich auch schwäbischer Herkunft. Insofern war klar: Lingua franca bei uns war Schwäbisch, denn ich konnte jetzt ja nicht Griechisch, Portugiesisch, Italienisch und sonst was alles lernen, um mit allen spielen zu können.
    "Ohne und gegen die Moscheen geht es nicht"
    Müller: Was ja auch nicht gerade einfach ist, das Schwäbische zu lernen. Aber wenn wir über die großen Theorien sprechen, die Religionen miteinander vergleichen, was wir in diesen Tagen ja tun, auch die Friedfertigkeit, oder auch die Gewalttätigkeit, und dann Islam, Islamismus, Terror, diese großen Diskussionen, kommt es letztendlich auf jeden Einzelnen an?
    Özdemir: Ganz sicher. Ich halte gar nicht so viel davon, dass wir Politiker Religion benoten oder bewerten. Ich glaube, jede Religionsgemeinschaft lebt ja von den Menschen, von denen, die in die Gotteshäuser gehen und praktizieren. Die sind entscheidend dabei, wie das Gesicht einer Religion aussieht. Da gibt es natürlich immer Stereotypen, Vorurteile, welche, die das einseitig darstellen, aber man muss sich selber natürlich auch immer fragen, was man denn selber für einen Beitrag dazu leistet, wie die eigene Religionsgemeinschaft dasteht.
    Da ist beim Islam vieles in die richtige Richtung gegangen - ich denke an die Tage der offenen Moschee, ich denke daran, dass wir mittlerweile eigentlich in fast allen Moscheen junge Leute finden in der Führung, die gut Deutsch können, die ihren Pfarrer, die ihren Imam, die ihren Religionsführer, Rabbi aus der jüdischen Gemeinschaft kennen, mit denen auch sich austauschen und treffen. Aber - und auch das gehört leider zur Realität dazu - wir sehen eben auch, dass aus den Moscheen heraus Jugendliche sich radikalisieren, verloren gehen auch ihren Eltern, und auch da brauchen wir die Moscheen, denn ohne und gegen die Moscheen werden wir diese Auseinandersetzung, wohin die Jugendlichen sich orientieren, nicht gewinnen können.
    Müller: Cem Özdemir, Grünen-Parteichef, bei uns heute Morgen live im Deutschlandfunk. Danke für das Gespräch, Ihnen noch einen schönen Tag.
    Özdemir: Gerne! Ebenfalls.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.