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Islamisten aus Tunesien
Gefängnisse als Brutstätten des Radikalismus

Viele Islamisten, die als IS-Kämpfer nach Syrien oder in den Irak gehen, kommen aus Tunesien. Auch der Berlin-Attentäter Anis Amri stammte von dort. Eine Studie zeigt, dass sich viele junge Männer in tunesischen Gefängnissen radikalisieren. Der Regierung fehlt eine Strategie gegen Terrorismus.

Von Jens Borchers | 14.02.2017
    Polizisten stehen in einer Straße und bewachen die Umgebung.
    Polizisten in Tunis. (Mohamed Messara, picture alliance / dpa)
    Der Berlin-Attentäter Anis Amri war Tunesier. In Hessen sitzt ein weiterer angeblicher "Gefährder" aus Tunesien in Untersuchungshaft. Und in beiden Fällen beschwert sich Deutschland über die schlecht funktionierende Zusammenarbeit mit dem nordafrikanischen Land. Das wird ganz bestimmt ein Thema sein, wenn Bundeskanzlerin Merkel heute den tunesischen Regierungschef Youssef Chahed empfängt.
    Aber dahinter liegt auch die Frage: Warum exportiert Tunesien so viele Islamisten und Radikale als Kämpfer nach Syrien, Irak oder Libyen, aber auch als potenzielle Gefährder nach Europa?
    Studie über Terrorismus-Verdächtige in Tunesien
    Ridha Raddaoui ist Rechtsanwalt. Und er hat an einer Studie mitgearbeitet, für die die Akten von etwa 1.000 Terrorismus-Verdächtigen in Tunesien ausgewertet wurden. Ergebnis Nummer eins: Tunesische Extremisten sind mehrheitlich jung, sagt Raddaoui. Ergebnis Nummer zwei: Viele sind relativ gut gebildet. Ergebnis Nummer drei: Etwa 70 Prozent der Terrorismus-Verdächtigen haben Trainingslager im Ausland durchlaufen.
    "Mehr als drei Viertel von ihnen sind jünger als 34 Jahre. Das ist eine neue Generation, die nicht so stark unter dem Druck der Diktatur stand. Und die vergleichsweise gut gebildet ist. 40 Prozent von ihnen haben Universitätskurse besucht."
    Das Bild, das die ausgewerteten Akten von Terrorismusverdächtigen hergeben, ist vielfältig. Gut gebildete Radikale, aber auch Schulabbrecher und Arbeitslose. 96 Prozent Männer, aber es kommen langsam immer mehr Frauen hinzu. Etwa die Hälfte der Beschuldigten kam über religiöse Schriften mit Extremisten in Kontakt. Andere wechselten direkt aus dem Klein-Kriminellen-Milieu in den angeblich religiös motivierten Kampf.
    Gefängnisse als Brutstätten
    Ridha Raddaoui zieht vor allem eine Schlussfolgerung: Es gibt kein einheitliches Profil. Es gibt nicht den einen Weg in den Extremismus. Es gibt viele verschiedene Motive und Ursachen. Raddaoui und seine Kollegen haben allerdings festgestellt, dass die Gefängnisse des Landes echte Brutstätten des Radikalismus geworden sind. Und Raddaoui beklagt, dass die verschiedenen tunesischen Regierungen auch sechs Jahre nach der Revolution noch kein Rezept gegen die Radikalisierung erarbeitet haben:
    "Die Behörden müssten ein Konzept für die Deradikalisierung entwickeln. Da ist aber bis heute nichts passiert."
    Tunesiens Sicherheitsapparat reagiert vor allem mit Strafverfolgung: Nach wie vor gilt in Tunesien der Ausnahmezustand. Nach wie vor gehen Polizei, Gendarmerie und Anti-Terrorismus-Brigaden mit groß-angelegten Hausdurchsuchungen und Verhaftungen vor. Und sie tun das mit teilweise ziemlicher Brutalität.
    Amnesty International beklagt Folter in Tunesien
    Ein neuer Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International dokumentiert 23 Fälle von Folter. Von willkürlichen Verhaftungen ist die Rede. Davon, dass Familienmitglieder von Verdächtigen misshandelt und unter Druck gesetzt wurden. Heba Morayef, die Chefin des Nordafrika Büros von Amnesty International, sagt, das ist gefährlich:
    "Wir sagen, man kann Sicherheitsrisiken per Gesetz und unter Einhaltung von Menschenrechten bekämpfen. Es wäre extrem gefährlich, Methoden anzuwenden, die an die Ben Ali-Ära erinnern."
    Neue Folter-Vorwürfe sind erschreckend. Das gilt allerdings auch für andere Hinweise, die die Studie über Radikalisierung in Tunesien liefert. Beispielsweise darauf, dass Radikale in die Sicherheitskräfte und Ministerien eindringen konnten. Ridha Raddaoui schildert als Beispiel die Festnahme und Flucht des meist gesuchten Extremisten von Tunesien, Abou Ayadh, vor gut vier Jahren:
    "Man hatte den Mann festgenommen, der in ganz Tunesien gesucht wurde, der sehr gefährlich war. Aber dann bekam der Polizist, der ihn verhaftet hatte, die Anweisung, ihn wieder laufen zu lassen."
    Präventionsstrategie fehlt
    Diese Anweisung sei damals aus dem tunesischen Innenministerium gekommen. Heute kommt die Regierung im Kampf gegen den Extremismus im eigenen Land kaum hinterher. Eine Präventionsstrategie fehlt, Repression allein hilft offenbar nicht weiter. Und, so formuliert es Ridha Raddaoui, der an der ersten großangelegten Studie über Extremisten mitgearbeitet hat: Alle rufen nach Lösungen für Phänomen, das wir noch gar nicht genau begriffen haben.