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Islamwissenschaftler empfiehlt Rückzug aus dem Irak

Der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze hält einen geordneten Rückzug der alliierten Truppen aus dem Irak für eine Voraussetzung zu einer dauerhaften inneren Befriedung des Landes. "Wellen der gegenseitigen Attacken" zwischen den Religionsgrupppen werde es kurzfristig immer wieder geben, sagte der Wissenschaftler von der Universität Bern. Im Irak fehle derzeit eine "unbelastete, religionsneutrale politische Führung".

Moderation: Rainer-Berthold Schossig |
    Rainer-Berthold Schossig: Der Schock sitzt tief. Auch die UNESCO warnt angesichts der blutigen Unruhen im Irak jetzt vor weiterer Eskalation der Gewalt. Der Anschlag auf die schiitische Goldene Moschee von Samarra und die folgende Zerstörung Dutzender sunnitischer Moscheen, christlicher Kirchen auch, sind beunruhigender als der bisherige gewalttätige Alltag im Nahen Osten. Im Irak sollen in diesen kritischen Tagen die Weichen für die Zukunft des Landes gestellt werden. Doch das Land steht am Abgrund, vielleicht vor einem unkalkulierbaren Bürgerkrieg. Der symbolträchtige Anschlag von Samarra und die Racheaktionen dagegen kommen zu einem politisch fatalen Zeitpunkt, denn die USA und die gemäßigten Kräfte im Lande bemühen sich gerade, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden.

    Frage an Reinhard Schulze, Islamwissenschaftler an der Universität Bern: Mit der Zerstörung religiöser Stätten im Irak wurde doch eine ultimative Grenzlinie jetzt überschritten?

    Reinhard Schulze: Ja, die Grenzlinie ist deshalb überschritten, weil jetzt der Anschlag wirklich spektakulär war. Aber Sie dürfen nicht vergessen: Vor drei Jahren gab es ja schon mal einen Anschlag auf diese Moschee, das hat keinen so großen Schaden verursacht, aber es hat da schon einen solchen Vorfall mal gegeben. Und andererseits wurde auch die sunnitische Hauptmoschee in Samarra ja ebenfalls vor zwei Jahren schon mal angegriffen. Also, das neue Moment ist einfach nur, dass es jetzt so spektakulär auf die Moscheen zugespitzt wird, was als Konflikt dort im Irak getragen wird.

    Schossig: Nun zählt Samarra ja zu den größten islamischen Stätten der Welt. Und nach dem Anschlag kam es - und das war ja eigentlich absehbar
    - zu einer ungeheuren Welle von Gewalt, von Gegengewalt. Was hat sich da eigentlich an Hass und an Verbitterung dort aufgestaut?

    Schulze: Na, Hass und Verbitterung sind sicherlich auch das Resultat einer ganzen langjährigen Politik auch der verschiedenen Regime im Irak, Religion auch als Ordnungsfaktor in der Gesellschaft mit einzuführen und immer stärker auch politisch zu nutzen. Dadurch sind die Grenzlinien zwischen den Konfessionen im Irak sehr viel stärker und undurchlässiger geworden, so dass sich auch politische Konflikte gerne entlang der religiösen Grenzlinien dann entwickeln und entfalten. Und je stärker im Grunde dieses Prinzip sich auch in der Gesellschaft durchsetzt, desto mehr erscheint der ganze Konflikt, der innerirakische Konflikt, als ein Konflikt zwischen zwei wichtigen religiösen Konfessionen.

    Schossig: Das ist die Erscheinungsform, Herr Schulze. Man sagt ja immer, dass diese religiöse Erscheinungsform durchaus gesellschaftliche Ursachen hat. Wie weit entfernt eigentlich von einem Bürgerkrieg ist das geschlagene Land jetzt noch?

    Schulze: Also was wir jetzt in den letzten Tagen erlebt haben, deutet darauf hin, also dass sich wohl alle Konfliktparteien darauf geeinigt haben, dass, wenn ein Konflikt ausgetragen wird, dann entlang auch der religiösen Grenzlinien, die existieren. Das bedeutet: Da es im Grunde nur zwei oder drei größere religiöse Konfliktlinien gibt im Lande, dass die Gefahr einer Eskalation sehr viel stärker geworden ist und größer geworden ist als noch vor etwa zwei oder drei Jahren.

    Schossig: Wer hat ein Interesse, diese beiden Volksgruppen oder Religionsgruppen im Irak aufeinander zu hetzen, in einen Bürgerkrieg?

    Schulze: Ich glaube, auf der einen Seite sicherlich die kleinen, auch sunnitischen Gruppen, die sich als terroristische Vereinigungen dann im Irak etabliert haben, die ein großes Interesse daran haben, endlich auch mal zu zeigen, dass was der "wahre" Islam ist, sich auch gegen die schiitische Tradition zu wehren hat. Das ist eine Propaganda, die schon in den letzten 50, 60 Jahren immer wieder vollzogen worden ist, vielfach aus Saudi-Arabien stammt, und jetzt also auch im Irak wirksam wird.

    Auf der anderen Seite sicherlich dürfte man auch die Politik des Irans nicht außer Acht lassen. Der Iran, der bestimmt auch ein gewisses Interesse daran hat, die religiöse Identität als eine politische Identität in den Vordergrund zu stellen und damit also auch über die Schia so etwas wie eine Hegemonie zu entwickeln.

    Schossig: Das hieße - um noch mal nachzufragen - der Schlüssel zur Lösung des Irak-Konflikts könnte mittlerweile gar nicht mehr in Bagdad, sondern in Teheran liegen?

    Schulze: Sicherlich liegt er außerhalb des Iraks. Also einerseits in Teheran, sicherlich auch in den umgebenden Ländern, auch in Saudi-Arabien, wo doch gewichtige Stimmen existieren, die mäßigend auf die Situation im Irak einwirken könnten. Es ist sicherlich auch so, dass die USA noch eine ganz gewaltige Rolle spielen, weil ihr Versuch des Ausgleiches im Irak doch etwas mehr an der Realität geführt werden sollte als es bislang gemacht wurde.

    Schossig: Der UN-Sicherheitsrat hat den Anschlag natürlich verurteilt.
    Die USA sprachen von einem verabscheuungswürdigen Verbrechen, Bush von einem sinnlosen Verbrechen. Nun scheint ja ein perverser Sinn gerade in diesem Anschlag zu stecken, nämlich dass ein Konflikt weiter angeheizt wird, gerade zu dem fatalen Zeitpunkt, wo eine demokratische Regierungsbildung im Irak bevorstand.

    Schulze: Richtig. Das ist sicherlich auch das Ansinnen derjenigen gewesen, die den Anschlag durchgeführt haben, dass sie sich auch explizit gegen den Demokratisierungsprozess im Irak gestellt haben und zeigen wollten, dass eigentlich der Konflikt woanders ist und auch anders ausgetragen wird und dass diese ganzen Demokratisierungsprozesse im Grunde nichtig seien angesichts der eigentlichen Konflikte, die es im Irak gibt. Insofern gibt es einen starken Trend auch, gegen den Demokratisierungsprozess vorzugehen, indem man solche religiösen Konflikte in den Vordergrund stellt.

    Schossig: Herr Schulze, vor dem Irak-Krieg haben eigentlich alle Islamwissenschaftler vor diesem Waffengang gewarnt. Man kann sich ja nun des Eindrucks eigentlich nicht erwehren, dass da jetzt eine weitere Saat der Gewalt aufgeht?

    Schulze: Ja, man wusste ja eigentlich schon vor drei Jahren, als der Krieg begann, dass der Krieg nicht innerhalb von zwei oder drei Wochen beendet sein wird, sondern dass mit der Besetzung der Krieg eigentlich erst wirklich losgeht, weil der Krieg nicht in der Lage war, einen wirklichen Feind zu definieren im Lande, der besiegt werden konnte, und wo dann durch eine Kapitulationserklärung der Krieg sozusagen formal auch beendet werden konnte. Das hat es im Irak ja nie gegeben. Man wusste gar nicht nachher mehr, wer der Feind eigentlich ist. Er wird sozusagen durch die Besetzung immer wieder neu geschaffen. Der Feind entsteht immer aufs Neue neu und begründet wiederum die Anwesenheit der amerikanischen und englischen Truppen aufs Neue. Diese Anwesenheit begründet dann wiederum den Widerstand gegen die Truppen, so dass sich das Ganze immer weiter eskaliert. Es ist im Grunde im Augenblick gar nicht absehbar, wie oder durch welche Mechanismen eine Deeskalation des Konfliktes überhaupt herbeigeführt werden kann.

    Schossig: Es hat auch den Anschein, als sei im Irak selbst keine politische oder religiöse Kraft so stark, dass sie sich an die Spitze einer nationalen Einheit setzen könnte. Das geistige Oberhaupt der Schiiten, der Großajatollah al-Sistani, hatte ja zu friedlichen Kundgebungen aufgerufen. Warum reicht seine Autorität nicht aus, dass sich die Menschen daran halten?

    Schulze: Ja, weil er sicherlich doch Schiit ist. Also er ist also ein Exponent der schiitischen Gelehrsamkeit und für die Sunniten in dem Sinne auch verdächtig. Was im Irak ja fehlt, ist eine unbelastete, religionsneutrale politische Führung oder politisch intellektuelle Schicht, die in der Lage wäre, auch die Verantwortung für das Land zu übernehmen. Dadurch dass sich auch durch die Politik - auch die amerikanische Politik - Religion als Identitätsmerkmal so in den Vordergrund gestellt hat, hat sich ergeben, dass sich auch die bislang religionsneutralen Intellektuellen vielfach der einen oder der anderen Seite angenähert haben, um überhaupt einen Stand in der Öffentlichkeit noch zu bekommen. Diejenigen, die jetzt sozusagen aus einer religionsneutralen Perspektive die Sache in die Hand nehmen könnten, die kann man bald nur noch an einer Hand abzählen.

    Schossig: Zum Schluss die Frage, Herr Schulze: Wo sehen Sie eine kurzfristige Lösung für diesen Konflikt?

    Schulze: Ich glaube, eine kurzfristige ist nicht möglich. Ich glaube, diese Wellen der gegenseitigen Attacken wird es immer wieder geben. Eine längerfristige Deeskalation kann nur, meines Erachtens, durch einen sinnvoll geplanten und organisierten Rückzug der alliierten Truppen geschehen bei einer gleichzeitigen koordinierten Reform des innerirakischen Dialoges. Also ein wenig Rückzug, ein wenig mehr Dialog, noch mehr Rückzug, noch mehr Dialog. Wenn das Hand in Hand geht, könnte es sein, dass dann der Irak irgendwann mal zu einer befriedeten Situation kommt.

    Schossig: Im Irak scheinen jetzt die düstersten Prophezeiungen, die es vor dem Irak-Krieg gab, Wirklichkeit zu werden. Das war der Schweizer Islamwissenschaftler Reinhard Schulze über die Hintergründe der jüngsten Eskalation der Gewalt im Nahen Osten.