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ISMO: Familien unterstützen, damit die Kinder gar nicht erst auf der Straße landen

Walther Specht, Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für Mobile Jugendarbeit (ISMO), sieht den fehlenden Halt in den Ursprungsfamilien als Grund für Kinder und Jugendliche, zumindest zeitweise auf der Straße zu leben. Durch eine zunehmende Mobilität der Straßenkinder könnte man häufig nur Krisenintervention betreiben. Langfristige Hilfe sei in vielen Fällen schwierig, betonte Specht.

Walther Specht im Gespräch mit Silvia Engels |
    Engels: Nach Schätzungen gibt es in Deutschland bis zu 20.000 von ihnen, doch viel weiß man nicht über sie. Die Rede ist von Straßenkindern. Jugendliche, die alleine oder in Gruppen in Großstädten unterwegs sind, die kein zu Hause haben oder nicht nach Hause wollen. Sie zu versorgen oder zu beraten, ist schwierig, denn viele misstrauen staatlichen oder auch kirchlichen Einrichtungen.

    Mitgehört hat Walther Specht. Er ist Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für Mobile Jugendarbeit, kurz ISMO. Das ist ein Fachverband im Diakonischen Werk. Er hat in den vergangenen Tagen einen internationalen Kongress in Stuttgart organisiert, auf dem 250 Fachleute über den Umgang mit Straßenkindern diskutiert haben. Guten Morgen, Herr Specht.

    Specht: Guten Morgen.

    Engels: Sind diese geschilderten Probleme aus Hamburg typisch?

    Specht: Sie sind typisch für eine Form, wenn Kinder bereits von der Familie losgelöst, wirklich auf der Straße überleben müssen.

    Engels: Es ist ja doch sehr auffällig, auch gerade in den Schilderungen, dass optisch anmutend diese Kinder gar nicht wie Straßenkinder wirken, sie also auf ihr Äußeres achten, auf der anderen Seite ja doch sehr wurzellos scheinen. Welches sind die Beweggründe?

    Specht: Nun gut, sie laufen vor irgendetwas weg, was ihnen nicht gefällt, was ihrem Leben nicht entspricht, was ihren Bedürfnissen nicht entspricht. Wir haben in Deutschland zwei Formen von Hilfe so wie die "Kids". Das ist ganz wichtig, dass sie aktuell in solchen Krisen irgendwo hingehen können. Aber wir haben jetzt bei unserem Kongress vor allen Dingen auch gefragt, woher kommen die Kinder, warum laufen die weg, vor was laufen sie weg.

    Engels: Welche Antworten haben Sie gefunden?

    Specht: Es ist Lieblosigkeit. Es ist eine nicht vorhandene Geborgenheit. Es fehlt das warme Nest. Wir haben deshalb in Deutschland oder auch weltweit - das haben viele Kollegen jetzt aus Sibirien, aus den USA, Lateinamerika oder Afrika berichtet -, die einen versuchen, die Hilfe dort zu organisieren, wo sie ausgegrenzt, wo sie missbraucht werden, in der Familie. Wir wissen, die Familie ist immer noch der Ort, wo am meisten Gewalt geschieht, und die Kinder wehren sich. Wenn sie es nicht mehr zu Hause aushalten, dann laufen sie weg. Das heißt nicht, dass sie dann 100 Prozent ständig auf der Straße sind. Das haben alle Kollegen berichtet. Sie kommen entweder immer wieder nach Hause oder sind zwei, drei Tage weg. Manche brechen die Zelte ganz ab von zu Hause. In Deutschland sind das vielleicht 20 Prozent der so genannten Straßenkinder. Es sind nicht nur Kinder; es sind auch junge Leute bis 15, 16, 18 oder über 20jährige.

    Engels: Gibt es denn Beispiele, wie Kinder, die eine gewisse Zahl von Jahren auf der Straße verbracht haben, zurückzuholen sind in die Gesellschaft, oder finden sie eigentlich nie in ein geregeltes Leben?

    Specht: Natürlich gibt es Beispiele. Sozialarbeiter, die über lange Jahre mit solchen Jugendlichen arbeiten, können sicher solche aufzählen. Wir hatten auch jetzt in den verschiedenen Arbeitsgruppen, in den Work Shops und den Foren Berichte davon. Aber es ist auch so: der Kollege aus Hamburg hat das ja auch gesagt. Die Mobilität der Jugendlichen, die Streifraummobilität wird immer größer. Das heißt, sie ziehen weiter. Manchmal trifft man so ein Kind, so einen jungen Menschen nur ein einziges Mal, weil er auf der Durchreise von Marseille nach Potsdam ist. Das heißt, diese Europäisierung, diese hohe geographische Mobilität nimmt zu. Das erschwert natürlich auch die Arbeit der Kollegen. Wenn ich sagen wir einen 12jährigen an der Kölner Domplatte treffe, dann kann es sein, dass ich ihm vielleicht nur eine warme Suppe anbieten kann, dass er seine Kleider waschen kann, dass er ein Telefonat machen kann, dass vielleicht sogar ein Gespräch, ein Telefonat mit dem Vater zu Hause, von dem er weggelaufen ist, möglich ist. Aber dann ist es möglicherweise auch schon zu Ende. Dann war das eine Form von Krisenintervention. Bei diesem Kongress haben wir verstärkt die Frage gestellt, woher kommen die Kinder, wie kann man dort, wo diese Ablösungsprozesse, diese Lieblosigkeit entsteht, schon intervenieren, in den Schlafstätten, in den Wohnquartieren, in Moskau etwa, in den riesigen Wohnsiedlungen. Das sind zwei Formen von Hilfe. Das ist ganz wichtig.

    Man kann sagen, man muss immer mehr Sozialarbeiter in die Szene schicken, wo die Kinder sich aufhalten, meist in den Vergnügungsvierteln oder in den Bahnhöfen. Das ist ein Ansatz. Und häufig - und das kritisieren wir auch sehr - wenn die Jugendämter, die Verantwortlichen tatsächlich etwas machen, erschöpft sich der Hilfeansatz in dieser reinen Krisenintervention. Aber wir haben lange Debatten gehabt, was sind die Ursachen, wie kann man Ablösungsprozesse schon frühzeitig erkennen. Fast alle Kinder gehen oder müssen irgendwo in die Schule gehen. Wo finden dort die Informationen statt? Wie werden die Informationen genutzt, die ein Lehrer hat? Wie ist die Kommunikation mit den Eltern? Wie kann man die Familie stützen, dass es erst gar nicht dazu kommt, dass die weglaufen müssen.

    Engels: Herr Specht, das klingt aber ein wenig so, als ob das Kind dann in den Brunnen gefallen ist, wenn das Kind wirklich wegläuft und dann auch mit den Problemen Drogenkriminalität, Prostitution in Kontakt kommt. Ist da auch die mobile Jugendarbeit, die Sie ja leisten, überfordert?

    Specht: Na ja, es kommt darauf an, wie Sie Überforderung jetzt betrachten wollen. Wenn man tatsächlich Informationen systematisch sammelt und unsere Jugendbehörden sind ja in der Lage, sie erkennen ja in der Regel Gefährdungen. Die Frage ist nur, wird dann von einer Gemeinde, von einer Stadt wirklich ausreichend Hilfe bereitgestellt, um dann auch aktiv nachgehend, aufsuchend die Kinder an ihren Trefforten, wenn solche erste Ablösungsprozesse erkennbar werden, besuchen. Und meine These ist - das haben die Kollegen alle bestätigt -, man kann das erkennen, wenn man es wirklich will. Aber was dann die Öffentlichkeit erregt, wenn sie dann eben am Bahnhof rumhängen, wenn sie sich prostituieren, wenn sie wirklich überleben müssen. Sie müssen ja irgendwas essen. Sie müssen sich kleiden. Dann haben wir das Problem sozusagen sichtbar und dann treten eben auch Sicherheitsdienste, Polizei auf und da fangen dann die Probleme an in der Öffentlichkeit.

    Engels: Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Wir haben es auch im Beitrag gehört. Die Sicherheitsdienste, die viel an Bahnhöfen, auch an anderen öffentlichen Plätzen von Behörden und Kommunen eingesetzt werden, verschärfen die das Problem, oder ließe sich das nicht möglicherweise doch einbinden?

    Specht: Die Sicherheitsdienste werden ja dann eingesetzt, wenn Bürger einer Stadt auf ihre verantwortlichen Ordnungskräfte, Ordnungsamt, Polizei, zugehen und sagen, das muss sich ändern. So weit ich diese Arbeit dieser Dienste, der Gefahrenindustrie sozusagen - das ist ja auch das Problem, dass das privatisiert wird - sehe, lösen sie die Probleme natürlich nicht. Die arbeiten lediglich an Symptomen. Der Kollege aus Hamburg hat das klar gemacht. Die versuchen natürlich auch zu fragen, woher kommt das. Die Ursachenorientierung kann ein Sicherheitsdienst nicht leisten. Insofern bedeutet das, dass praktisch diese jungen Leute wirklich nie nachhaltig zurückgeführt werden können in die Familie. Da liegt das große Problem. Auf der anderen Seite ist der Druck in der Öffentlichkeit sehr stark. Unsere Erfahrung war jetzt: in vielen Städten auch hier in Süddeutschland waren viele Kollegen da, die erleben das in ihren Gemeinden, diese Auseinandersetzung. Einerseits die Rat- und die Hilflosigkeit der Stadtverantwortlichen. Und wenn der Druck aus der Bevölkerung sehr stark ist, dass es ein Ordnungs- und Sicherheitsproblem wäre, dann werden solche Sicherheitsdienste auf den Weg gebracht, wenn die Polizei diese Aufgabe nicht mehr machen kann oder machen will.

    Engels: Aber können Sie dann nicht die Bevölkerung auch verstehen, die jetzt gerade angesichts dieser Fälle von bekannt gewordenen Überfällen einfach ein gewachsenes Sicherheitsbedürfnis hat?

    Specht: Natürlich. Das haben wir sehr ausführlich diskutiert. Jeder Mensch hat ein Recht auf öffentliche Sicherheit und Ordnung. Und es ist die erste Pflicht eigentlich eines jeden Staates, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Und wir wissen auch - das haben uns Kollegen jetzt aus New York erzählt oder aus Moskau, aus Rio de Janeiro, wo die Verhältnisse ja viel, viel massiver sind. Wir haben einen Priester hier. Der hat Anrufe bekommen, dass gestern wieder einer seiner Jugendlichen erschossen wurde, in Chicago an der South Side, woher Herr Obama kommt und dort etwas verändern will.

    Engels: Herr Specht, wir müssen leider zum Ende kommen, obwohl auch diese Schilderungen sehr interessant sind. - Walther Specht war das. Er ist der Vorsitzende der ISMO, einer Gesellschaft für Mobile Jugendarbeit. Ich bedanke mich für das Gespräch.

    Specht: Bitte.