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Israel
Eine Gesellschaft der religiösen Paradoxe

Der Riss durch die israelische Gesellschaft wird tiefer: Säkulare und religiös-orthodoxe Juden driften in ihren Weltanschauungen immer weiter auseinander. In seinem heute erscheinenden Buch "Israel" beschreibt der Historiker Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur in München, die aktuelle gesellschaftliche Lage in Israel.

Michael Brenner im Gespräch mit Andreas Main |
    Ein orthodoxer jüdischer Mann (li.) geht in Jerusalem an zwei modern gekleideten israelischen Jugendlichen vorbei.
    Ein orthodoxer jüdischer Mann (li.) geht in Jerusalem an zwei modern gekleideten israelischen Jugendlichen vorbei. (picture alliance / dpa / Abir Sultan)
    Symptomatisch für den Riss in der israelischen Gesellschaft seien die Städte Jerusalem und Tel Aviv, sagt Brenner im Deutschlandfunk. Während die Gesellschaft in Tel Aviv immer säkularer werde, wachse der Anteil der religiös Orthodoxen in Jerusalem. Beide Bevölkerungsgruppen separieren sich offenbar immer stärker voneinander. Koschere Restaurants in Tel Aviv seien inzwischen selten; in Jerusalem hingegen seien die meisten Lokale koscher. Während der öffentliche Verkehr in Jerusalem am Shabbat weitgehend lahmgelegt sei, gehe in Tel Aviv das Leben ganz normal weiter.
    Michael Brenner sagt, die israelische Gesellschaft sei in Bezug auf die Religion eine Gesellschaft der Paradoxe. Als Beispiel nennt er Golda Meir: Israel hatte mit ihr 1969 die erste weibliche Regierungschefin eines westlichen Landes. Zugleich werde bis heute das Ehe- und Scheidungsrecht von religiösen Rechtsvorstellungen bestimmt. So gibt es keine Zivilehe in Israel. Die Heirat etwa zwischen einem Juden und einer Christin müsse im Ausland erfolgen. Seit vielen Jahren gibt es in Israel einen regelrechten Heirats-Tourismus ins nahegelegene Zypern.
    Das Selbstverständnis Israels als jüdischer Staat
    Brenner, 1964 geboren als Sohn zweier Schoah-Überlebender in Bayern, beschreibt das Selbstverständnis Israels so: Es verstehe sich als jüdischer Staat, aber nicht im religiösen, sondern vielmehr im ethnischen Sinne, im Sinne einer jüdischen Nation, eines jüdischen Volkes. In den israelischen Personalausweisen gebe es eine Bezeichnung "jüdisch", aber nicht unter der Kategorie "Religionszugehörigkeit" sondern unter "Nationalität". Viele Israelis seien nicht religiös, bezeichnen sich selbst als säkular. Sie gehen nie in die Synagoge, leben nicht nach den jüdischen Speisegesetzen, aber bezeichnen sich selbstverständlich als Juden. Sie gehen sonntags arbeiten und samstags - am Shabbat - bleiben sie Zuhause. Selbst bei säkularen Juden sei somit der Wochenzyklus von der jüdischen Religion vorgegeben.
    Auf die Frage, was ihm als Juden in der Diaspora das Jüdisch-Sein bedeutet, sagte Michael Brenner im Deutschlandfunk: Für seine Identität als Jude sei die lange Tradition jüdischer Geschichte ebenso wichtig wie jene Kultur, die bestimmte Werte hervorgebracht und in der Religion einen gewissen Stellenwert habe. Ab und zu gehe er sogar in die Synagoge, obwohl er nicht sonderlich religiös sei, sagt Michael Brenner. Das sei typisch für Juden in der Diaspora. Anders in Israel: Dort seien die meisten Juden entweder orthodox oder säkular. Eine Tradition des liberalen Judentums, wie sie in Amerika stark verbreitet ist, gebe es in dieser Form in Israel nicht.
    Religion zu Beginn der zionistischen Bewegung
    In den Anfangszeiten der zionistischen Bewegung und des israelischen Staates stand die Religion eher im Hintergrund, sagt Brenner im Interview. Die Begründer der zionistischen Bewegung seien alle areligiös oder anti-religiös gewesen. Angefangen bei Theodor Herzl über Wladimir Zeev Jabotinsky bis hin zu David Ben Gurion. Gleichwohl war ihnen klar, dass die Orthodoxie im Judentum nicht ausgegrenzt werden dürfe. David Ben Gurion, der erste Ministerpräsident Israels, wollte Kompromisse machen, um orthodoxe Juden in die israelische Gesellschaft zu integrieren. Er sei allerdings davon ausgegangen, die Minderheit würde weiter schrumpfen. Niemand habe 1948 bei der Staatsgründung Israels geglaubt, so Michael Brenner, dass die Zahl der Orthodoxen einmal so stark anwachsen würde.
    Diaspora oder Israel – was ist das eigentlich Jüdische?
    Judentum und Diaspora gehören zusammen. Davon ist Brenner überzeugt. Seit zweitausend Jahren gebe es die Diaspora, aber auch die Sehnsucht nach Israel. Die zionistische Bewegung glaubte zunächst, die Diaspora werde sich auflösen. Wer Juden bleiben wolle, würde in den jüdischen Staat auswandern. Diejenigen, die in der Diaspora blieben, würden sich mit der Zeit völlig assimilieren und ihre jüdische Identität verlieren.
    Extremen Israel-Kritikern hält Michael Brenner entgegen, dass die Schoa hätte verhindert werden können, wenn es den jüdischen Staat schon früher gegeben hätte. Das sei auch der Grund, warum viele jüdische Kritiker des Zionismus selbst Zionisten geworden seien.