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"Israel tötet uns, Israel boykottiert uns"

Khalid Abed (Name geändert), Dozent für Maschinenbau an der Universität Gaza, wirft Israel eine Versorgungsblockade des Gaza-Streifens vor, die schon vor der jetzt gebrochenen Waffenruhe bestanden habe. Er verstehe, dass Israel aus der Geschichte heraus um seine Sicherheit besorgt sei. Doch auch er habe das Recht auf Sicherheit. Zurzeit könne er wegen der Blockade des Gaza-Streifens seiner Tochter nicht einmal Windeln oder einen Apfel kaufen.

    Friedbert Meurer: Seit Samstag herrscht faktisch Krieg zwischen der Hamas im Gaza-Streifen und Israel. Als Antwort auf die gebrochene Waffenruhe beschießt die israelische Armee Einrichtungen vor allem von Regierung und Polizei im Gaza-Streifen. Aber auch die Zivilbevölkerung leidet darunter. Vor der Sendung habe ich mit einem Dozenten für Maschinenbau an der Universität Gaza gesprochen - nennen wir ihn Khalid Abed – und ihn zunächst gefragt, wie er die Situation seit den Angriffen erlebt hat.

    Khalid Abed (Pseudonym): Ich war gerade an der Uni und habe dort eine Vorlesung gehalten und plötzlich bebte das Gebäude und ich dachte, was ist denn los. Dann kam der zweite Angriff, der dritte, und dann haben wir wahrgenommen, dass dies doch Luftangriffe waren und dass wohl die Operation der israelischen Armee im Gaza-Streifen begonnen hat. Dann haben die Studentinnen in dem Vorlesungssaal angefangen zu schreien. Ich habe versucht, sie zu beruhigen. Dann sind wir alle aus dem Gebäude gegangen und es roch danach, wie wenn man Holz verbrennt. Durch die Luftangriffe entstehen bestimmte Gerüche und das hat man gerochen. Das war natürlich ein absolut unangenehmes Gefühl und glücklicherweise hatte eine Studentin das Fenster des Raumes ein paar Minuten davor aufgemacht. Ansonsten wären die Fensterscheiben zu Bruch gegangen.

    Meurer: Das heißt, das war ein Angriff, der Teile der Universität zerstört hat?

    Khalid Abed: Der Angriff galt Regierungsgebäuden neben der Universität. Man muss sich vorstellen, die breiteste Stelle im Gaza-Streifen beträgt acht Kilometer, ansonsten vier Kilometer. Das heißt, wenn irgendwo in der Stadt Gaza etwas knallt, dann hören wir das eigentlich überall. Wenn das dann näher an dem Ort, wo man wohnt oder lebt, passiert, dann bebt das ganze Haus.

    Meurer: Sie haben in Ihrem Haus, dort wo Sie wohnen, einen Anruf bekommen von israelischer Seite, dass Sie das Gebäude räumen sollen, weil ein anderer Angriff bevorsteht. Was war das für ein Telefonanruf?

    Khalid Abed: Das war ein Anruf bei einem Sportclub, wo wir gegenüber von diesem Sportclub wohnen. Der Anruf war wie gesagt im Sportclub selbst, dass dieser Sportclub angegriffen wird, und wir hätten zwei Stunden Zeit, um die umliegenden Häuser zu evakuieren.

    Meurer: Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, dass Ihr Haus getroffen werden kann?

    Khalid Abed: Das Haus ist schräg gegenüber von diesem Sportclub und das heißt, wenn wirklich dieser Sportclub angegriffen werden sollte, dann ist es definitiv sicher, dass alle Fensterscheiben und wahrscheinlich Fensterrahmen und Türen aus deren Position springen werden.

    Meurer: Sie haben mit Ihrer Familie Ihre Wohnung verlassen müssen. Wer gehört alles zur Familie?

    Khalid Abed: Meine Frau und meine zwei Töchter.

    Meurer: Wo sind Sie hingegangen?

    Khalid Abed: Wir sind jetzt im Haus meiner Eltern.

    Meurer: Sie sind vor gut einem Jahr von Berlin nach Gaza gezogen.

    Khalid Abed: Vor eineinhalb Jahren genau.

    Meurer: Vor eineinhalb Jahren. – Wie erleben Sie im Moment diesen großen Unterschied zu Berlin?

    Khalid Abed: Vielleicht sollte ich hier ein paar grundsätzliche Gedanken los werden. Zuerst: Ich persönlich bezeichne mich als Pazifist und gegen Gewalt und lehne Gewalt als Lösungsmittel für Konflikte kategorisch prinzipiell ab. Und ich versuche, mich für beide Seiten zu rechtfertigen. Aber nur so ein paar Fakten zu mir selbst. Ich habe einen Teil meiner Sachen mit dem Schiff nach Israel verschifft und seit Juni 2007 liegen sie immer noch in Israel. Das sind meine Bücher, meine Haushaltssachen und meine Kleider sowie die von meinen Kindern und meiner Frau. Seit fast eineinhalb Jahren liegen sie immer noch in Israel und wir haben keine Genehmigung bekommen, sie in den Gaza-Streifen zu bringen.

    Meurer: Das ist eine Folge der israelischen Blockade des Gaza-Streifens?

    Khalid Abed: Genau. Richtig, so ist das. Es handelt sich dabei aber um Privatsachen. Das ist kein Handelsgut. Es sind Privatsachen und zum großen Teil benutzte Sachen. Warum durfte ich sie nicht nach Gaza bringen? Welche Gefahr geht davon aus gegen die Sicherheit des Staates Israel? Kann man mir das bitte erklären?

    Meurer: Die Israelis befürchten, dass auf diese Weise möglicherweise Waffen nach Gaza geliefert werden.

    Khalid Abed: Sie haben meine Sachen komplett alle kontrolliert. Alles wurde durchsucht und kontrolliert und ich habe auch die Hafengebühren dafür bezahlt. Das heißt, es geht definitiv keine Gefahr aus diesen Sachen heraus.
    Der zweite Fakt, was ich sagen will: Seitdem wir hier sind, wurde der Belagerungszustand oder das Embargo so verschärft und jetzt kommen sehr viele Sachen über die Tunnel. Das sind aber Ergänzungsdinge. Das sind keine lebensnotwendigen Mittel, die jetzt über die Tunnel gebracht werden können. Man muss bedenken, dass die Preise für die Dinge natürlich das Vielfache von dem sind, was der normale oder reguläre Preis ist.
    Drittens: Die Waffenruhe, die jetzt in Juni unterzeichnet worden ist, galt vier Monate lang wunderbar und hat funktioniert auf beiden Seiten. Allerdings bekam man kaum Sachen durch die israelischen Grenzen und auch der Belagerungszustand wurde kaum gelockert. Das heißt, es ging so weiter wie eigentlich davor, wie es vorher war.

    Meurer: Auf der anderen Seite sagt Israel vermutlich, wer garantiert uns, dass die Angriffe auf Süd-Israel aufhören, wenn wir die Blockade lockern.

    Khalid Abed: Ich meine, die Waffenruhe hat ja vier Monate lang funktioniert. Das ist auch ein Fakt. Der Journalist Levi hat auch wortwörtlich gesagt, Israel ist derjenige, wer die Waffenruhe Anfang November verletzt hat, nicht die Palästinenser. Das war ein israelischer Journalist, der das geschrieben hat, und das ist auch ein Fakt.

    Meurer: Aber Hamas hat jetzt die Waffenruhe aufgekündigt.

    Khalid Abed: Ja! Sie wurde aufgekündigt, weil die andere Seite bereits, bevor die Waffenruhe zu Ende gekommen ist, diese aufgekündigt hat.

    Meurer: Diese Raketenangriffe, die es von Hamas-Seite auf Süd-Israel gibt, was wird damit bezweckt, außer Israel zu einem Gegenangriff zu provozieren?

    Khalid Abed: Ich lehne Gewalt wie gesagt ab, aber ich versuche auch, die Menschen hier zu verstehen. Man muss bedenken, dass ich auch fast 17 Jahre in Deutschland gelebt habe, und ich schaue auf viele Sachen anders als die Menschen hier. Ich versuche, wirklich so sachlich wie möglich an die Sache heranzugehen. Israel tötet uns, Israel boykottiert uns. Im Augenblick gibt es nicht mal Windeln für meine Tochter. Ich kann nicht mal Windeln für meine Tochter kaufen. Das heißt, dieser Belagerungszustand hat alle Bereiche des Lebens erreicht. Seit Anfang November gibt es überhaupt kaum Obst auf dem Markt. Meine Tochter, die vier Jahre lang in Deutschland gelebt hat, wünscht sich einen Apfel. Es gibt keine Äpfel auf dem Markt. Das ist nur ein Beispiel. Ich will damit nur zum Ausdruck bringen: Wir haben hier im Gaza-Streifen nichts mehr zu verlieren.

    Meurer: Wie wird der kommende Tag für Sie aussehen? Werden Sie zur Arbeit gehen an die Universität Gaza?

    Khalid Abed: Nein! Heute, morgen und übermorgen ist eine Art Trauer oder Generalstreik ausgerufen worden wegen der politischen Lage. Das gilt auch für die Schulen, Ministerien, Universitäten und so weiter. Das heißt, frühestens am Mittwoch werden wir wenn überhaupt dann in die Uni gehen. Man weiß ja nicht, wie sich die Lage entwickelt. Ich hoffe, dass aber beide Seiten sich besinnen werden und dass sie wieder zur Vernunft kommen. Wir haben wie gesagt nichts zu verlieren. Die Bevölkerung im Gaza-Streifen ist dermaßen schizophren. Ich habe mit vielen Leuten gesprochen, Taxifahrern, Gästen im Taxi während der Fahrt zur Uni, und habe sie gefragt, seid ihr für die Raketenangriffe oder dagegen, wollt ihr das oder jenes, und meistens hört man als Antwort, eigentlich wollen wir gar nichts von den Israelis haben, aber sie sollen leiden, genauso wie wir leiden. Ich vermute, dieses Leid, diese Angst, das ist eigentlich der einzige Zweck, den die Raketenangriffe von uns aus gesehen bringen sollen, der dazu führt, dass die andere Seite auch Angst fühlt und spürt, dass die normale Bevölkerung diese Angst, die wir auch haben, spürt. Immer wieder, auch in Deutschland, habe ich dieses legitime Recht Israels auf Sicherheit und immer wieder Sicherheit gehört. Und immer wieder habe ich auch das wiederholt gesagt: Okay, Israel will Sicherheit haben. Das ist verständlich. Die Geschichte der Israelis oder der Juden in Europa und in Deutschland und so weiter gibt ihnen das Recht, dass sie auf ihre Sicherheit achten müssen. Dafür habe ich absolutes Verständnis. Aber ich sage, was ist denn mit meiner eigenen Sicherheit, oder haben nur die Israelis oder die Juden das Recht auf Sicherheit, während die anderen kein Recht auf Sicherheit haben?

    Meurer: Ein palästinensischer Augenzeuge der israelischen Luftangriffe und Dozent an der Universität Gaza, mit dem ich kurz vor der Sendung gesprochen habe.