Samstag, 11. Mai 2024

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Israelische Jugendliche wachsen mit Gewalt auf

Elke Durak: Je näher die Präsidentschaftswahlen in den palästinensischen Gebieten rücken, desto nervöser wird die Lage dort. Immer öfter kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, aber nicht nur zwischen Israelis und Palästinensern, auch unter den Palästinensern selbst und auch zwischen der israelischen Armee und israelischen Siedlern, die nicht weichen wollen, - gestern wieder im Gazastreifen. Gewalt seit Jahren und Jahrzehnten. Wenn sie zu den prägenden Einflüssen Kinder und Jugendlicher beider Seiten gehört, die dann Erwachsene werden, wie sollen sie ein neues Verhältnis miteinander und untereinander aufbauen? Gehören sie insofern vielleicht doch einer verlorenen Generation an? Darüber will ich jetzt sprechen mit Georg Roessler, er ist mit Gewaltdeeskalation beschäftigt, vor allem in Jerusalem als Trainer. Er lebt dort selbst seit 1988 und hat das Zentrum "SOS Gewalt" in Jerusalem vor einem halben Jahr etwa gegründet. Herr Roessler, was unterscheidet denn einen israelischen Jugendlichen von einem europäischen, wenn es um Gewaltprägung geht?

Moderation: Elke Durak | 06.01.2005
    Georg Roessler: Gewalt ist natürlich immer etwas Schreckliches. Wenn ein europäischer, ein deutscher Jugendlicher schlägt, prügelt, sich daneben benimmt, dann macht er das wohl, hat dafür aber keine gesellschaftliche Akzeptanz, es ist nicht legitim. Ich glaube, der Unterschied wäre hier, dass israelische Jugendlicher und vielleicht speziell jüdisch-israelische Jugendliche der vergangenen 60 Jahre eigentlich erleben oder narrativ erzählt bekommen, dass die Anwendung von Gewalt lebenserhaltend ist. Darf ich das mal so beschreiben? Wenn ich als Vater mir vorstelle, was mein Sohn mal sein soll, dann würde ich mir wünschen, dass er ein Fallschirmspringer wird, dass er einer Eliteeinheit angehört. Das ist eine militaristische Tradition, die einfach darauf zurückzuführen ist: Wir als Volk haben die Briten rausgeschmissen, die sind nicht freiwillig gegangen und wir als Volk haben uns gegen die bösen, bösen Araber verteidigt, die uns immer ans Leder wollen. Die Durchsetzung mit Gewalt, durch Gewalt ist etwas Positives, etwas Lebenserhaltendes. Das ist dann für einen israelischen Jugendlichen erstmal nicht einfach zu verstehen, wenn die Eltern sagen, aber hau' den Yitzrak nicht, der weint ja gleich. Denn warum soll er ihn nicht hauen? Denn Hauen ist etwas, was lebenserhaltend ist. Das ist, glaube ich, der Unterschied.

    Durak: Haben Sie eben auch einen Unterschied gemacht zwischen einem jüdisch-israelischen Jugendlichen und einem arabisch-israelischen Jugendlichen? Wenn ja, welcher Unterschied?

    Roessler: Einen kleinen. Ich habe eben das Wort "narrativ" eingebaut, sagen wir mal, die eigene Geschichtsschau. Die ist natürlich zwischen jüdischen Israelis und arabischen Israelis anders. Die arabischen Israelis, die also eine israelische Staatsbürgerschaft haben, würden sich eher mit der palästinensischen Seite identifizieren, die ein anderes Schicksal erfahren hat als die jüdisch-israelische Seite. Das ist aber nur ein kleiner Unterschied im Augenblick. Ich wollte die arabische Bevölkerung nicht zu großzügig vereinnahmen in das, was die Mehrheit dieses Volkes als Geschichte persönlich erfahren hat.

    Durak: Die Gewalterfahrungen junger Palästinenser, um über den Grenzzaun zu schauen, sind diese Gewalterfahrungen mit denen der israelischen Altersgenossen vergleichbar oder wo liegen da Unterschiede?

    Roessler: Es ist eine ganz absurde Geschichte. In meinen Augen ist die fast identisch und zwar identisch um ein paar Jahre verzögert oder verschoben. Die palästinensische Bevölkerung, wenn ich das jetzt so sage, mal nicht die Bevölkerung in der West Bank und im Gazastreifen, die auch in den Medien immer wieder vorgestellt wird, führen ja gerade ihren Befreiungskrieg, das ist jedenfalls ihre Perspektive. Im Rahmen dieses Befreiungskrieges ist natürlich alles erlaubt: Die Missachtung der Gesetze, die die israelischen Besatzer ihnen aufs Auge gedrückt haben, die Anwendung von Gewalt, vor der ersten Intifada, Steine werfen bei der zweiten Intifada, nun schon mit massivem Waffeneinsatz, bis hin zu diesen schrecklichen Selbstmordgeschichten. Das ist alles legitim, weil man eben ein Ziel hat: einen Besatzer abzuschütteln. Im Rahmen dieser Erfahrungen entwickelt sich auch in der palästinensischen Jugend und damit der zukünftigen Bevölkerung eine Tradition des, ja ich will mal sagen, des Illegalismus, was die Obrigkeiten sagen, das zählt nicht. Es zählt nur das höhere Ziel, das Leben zu behaupten, die eigene Staatlichkeit durchzusetzen.

    Durak: Dies wurde ja, wenn ich mal unterbrechen darf, stark repräsentiert durch Präsident Arafat? Arafat ist tot. Beginnt nun oder hat nun für diese palästinensischen Jugendlichen so etwas wie eine haltlose Zeit begonnen?

    Roessler: Das ist eine rasend spannende Frage. Sie haben Recht, Arafat hat diesen Freiheitskampf symbolisiert. Im Rahmen des Freiheitskampfes ist dabei natürlich viel von der Vision einer zivilen Gesellschaft auf der Strecke geblieben. Die große Aufgabe der jetzigen Wahlen und des eigentlich schon designierten neuen Präsidenten werden sein, sich eine Vision zu stellen, wie eine zivile Gesellschaft aussehen kann, wenn einmal, ob nun in zwei Wochen oder in einem halben Jahr, die israelische Besatzung abgeschüttelt sein wird. Das ist die große Aufgabe. Eine haltlose Zeit insofern, ich würde das Wort anders sagen, ist eigentlich eine Zeit der Hoffnung, denn jetzt können sich die Palästinenser eigentlich zum ersten Mal schon Gedanken machen, wie eigentlich ihre Welt aussehen soll nach Israel.

    Durak: Dennoch brauchen ja die Jugendlichen, sowohl die in Israel als auch die palästinensischen Jugendlichen offensichtlich Hilfe, sonst gäbe es Sie und Ihr Zentrum nicht und das Zentrum für Gewaltstudien. Sie betreiben Deeskalation als Trainer, tun das ja hier auch in Deutschland, aber vor allen Dingen auch dort. Was können Sie tun, was machen Sie konkret?

    Roessler: Die große Schwierigkeit hier vor Ort und das ist wieder parallel sowohl in der palästinensischen Gesellschaft wie eben auch in der israelischen Gesellschaft, die Anwendung von Gewalt nicht zu verbieten. Wir können den Leuten hier nicht sagen, hört auf zu prügeln. Ihnen wurde eben 60 Jahre lang beigebracht, oder durch die Bereitschaft der Palästinenser in der jüngeren Zeit, Draufhauen ist erfolgreich, Draufhauen schmeißt den Besatzer raus, wehrt euch, seid stark. Da können wir ihnen nicht einfach sagen, hört auf. Wir können ihnen nur Folgendes sagen: Es gibt noch weitere Methoden, die manchmal noch effizienter, noch wirkungsvoller sind. Wir haben die schwierige Aufgabe, den Leuten, den Jugendlichen insbesondere zu zeigen, dass das, was wir als demokratische Durchsetzungsmethoden bezeichnen, also gewaltfreie Durchsetzung, dass das mittel- und langfristig effizienter, also besser, wirkungsvoller ist. Das ist das Einzige, was zieht. Wir können ihnen nicht sagen, seid nett zueinander. Das kaufen sie keinem Erwachsenen mehr ab. Deswegen setzen wir Trainer ein, die selber aus der Gewaltszene kommen. Eine unserer Startrainerinnen ist eine Jiu Jitsu -Schwarzgurt-Kämpferin. Die ist glaubwürdig, wenn sie sagt, ich könnte euch auch in drei Minuten auf die Matte legen, aber ich mache was anderes, ich sage euch mal, welche anderen Methoden es auch gibt. Dann wird das von der Jugend geglaubt.

    Durak: Das ist ein sicherlich in erster Linie körperliche Deeskalation und die geistige, findet die statt?

    Roessler: Die geistige ist genauso wichtig, findet auch statt. Überwiegend auf der verbalen Ebene als Rhetorik und als Sprachübung, um den Leuten, den Jugendlichen zu zeigen, wie man sich durch besseres Reden, durch verständlicheres Reden auch mehr Plätze erkämpfen kann. Was hier ganz, ganz wichtig ist, ist zu zeigen, Demokratie ist ein Durchsetzungsmodell, ein Konfliktmodell, es geht nicht darum, nett zueinander zu sein. Demokratie heißt aber, die besseren Spielregeln zu haben, die einer zivilen Gesellschaft auf die Beine helfen. Deswegen sagen wir Leuten: Ihr wollt euch durchsetzen? Ihr wollt stärker sein als andere? Macht das! Neben dem Draufprügeln, was ihr gelernt habt, versucht doch mal, Methoden der verbalen Durchsetzung, Methoden der eher Umgangsweisedurchsetzung zu erlernen, die euch in gewissen Situationen noch weiter bringen.

    Durak: Georg Roessler, Deeskalationstrainer am Zentrum für Gewaltstudien, "SOS Gewalt" in Jerusalem.