Durak: Haben Sie eben auch einen Unterschied gemacht zwischen einem jüdisch-israelischen Jugendlichen und einem arabisch-israelischen Jugendlichen? Wenn ja, welcher Unterschied?
Roessler: Einen kleinen. Ich habe eben das Wort "narrativ" eingebaut, sagen wir mal, die eigene Geschichtsschau. Die ist natürlich zwischen jüdischen Israelis und arabischen Israelis anders. Die arabischen Israelis, die also eine israelische Staatsbürgerschaft haben, würden sich eher mit der palästinensischen Seite identifizieren, die ein anderes Schicksal erfahren hat als die jüdisch-israelische Seite. Das ist aber nur ein kleiner Unterschied im Augenblick. Ich wollte die arabische Bevölkerung nicht zu großzügig vereinnahmen in das, was die Mehrheit dieses Volkes als Geschichte persönlich erfahren hat.
Durak: Die Gewalterfahrungen junger Palästinenser, um über den Grenzzaun zu schauen, sind diese Gewalterfahrungen mit denen der israelischen Altersgenossen vergleichbar oder wo liegen da Unterschiede?
Roessler: Es ist eine ganz absurde Geschichte. In meinen Augen ist die fast identisch und zwar identisch um ein paar Jahre verzögert oder verschoben. Die palästinensische Bevölkerung, wenn ich das jetzt so sage, mal nicht die Bevölkerung in der West Bank und im Gazastreifen, die auch in den Medien immer wieder vorgestellt wird, führen ja gerade ihren Befreiungskrieg, das ist jedenfalls ihre Perspektive. Im Rahmen dieses Befreiungskrieges ist natürlich alles erlaubt: Die Missachtung der Gesetze, die die israelischen Besatzer ihnen aufs Auge gedrückt haben, die Anwendung von Gewalt, vor der ersten Intifada, Steine werfen bei der zweiten Intifada, nun schon mit massivem Waffeneinsatz, bis hin zu diesen schrecklichen Selbstmordgeschichten. Das ist alles legitim, weil man eben ein Ziel hat: einen Besatzer abzuschütteln. Im Rahmen dieser Erfahrungen entwickelt sich auch in der palästinensischen Jugend und damit der zukünftigen Bevölkerung eine Tradition des, ja ich will mal sagen, des Illegalismus, was die Obrigkeiten sagen, das zählt nicht. Es zählt nur das höhere Ziel, das Leben zu behaupten, die eigene Staatlichkeit durchzusetzen.
Durak: Dies wurde ja, wenn ich mal unterbrechen darf, stark repräsentiert durch Präsident Arafat? Arafat ist tot. Beginnt nun oder hat nun für diese palästinensischen Jugendlichen so etwas wie eine haltlose Zeit begonnen?
Roessler: Das ist eine rasend spannende Frage. Sie haben Recht, Arafat hat diesen Freiheitskampf symbolisiert. Im Rahmen des Freiheitskampfes ist dabei natürlich viel von der Vision einer zivilen Gesellschaft auf der Strecke geblieben. Die große Aufgabe der jetzigen Wahlen und des eigentlich schon designierten neuen Präsidenten werden sein, sich eine Vision zu stellen, wie eine zivile Gesellschaft aussehen kann, wenn einmal, ob nun in zwei Wochen oder in einem halben Jahr, die israelische Besatzung abgeschüttelt sein wird. Das ist die große Aufgabe. Eine haltlose Zeit insofern, ich würde das Wort anders sagen, ist eigentlich eine Zeit der Hoffnung, denn jetzt können sich die Palästinenser eigentlich zum ersten Mal schon Gedanken machen, wie eigentlich ihre Welt aussehen soll nach Israel.
Durak: Dennoch brauchen ja die Jugendlichen, sowohl die in Israel als auch die palästinensischen Jugendlichen offensichtlich Hilfe, sonst gäbe es Sie und Ihr Zentrum nicht und das Zentrum für Gewaltstudien. Sie betreiben Deeskalation als Trainer, tun das ja hier auch in Deutschland, aber vor allen Dingen auch dort. Was können Sie tun, was machen Sie konkret?
Roessler: Die große Schwierigkeit hier vor Ort und das ist wieder parallel sowohl in der palästinensischen Gesellschaft wie eben auch in der israelischen Gesellschaft, die Anwendung von Gewalt nicht zu verbieten. Wir können den Leuten hier nicht sagen, hört auf zu prügeln. Ihnen wurde eben 60 Jahre lang beigebracht, oder durch die Bereitschaft der Palästinenser in der jüngeren Zeit, Draufhauen ist erfolgreich, Draufhauen schmeißt den Besatzer raus, wehrt euch, seid stark. Da können wir ihnen nicht einfach sagen, hört auf. Wir können ihnen nur Folgendes sagen: Es gibt noch weitere Methoden, die manchmal noch effizienter, noch wirkungsvoller sind. Wir haben die schwierige Aufgabe, den Leuten, den Jugendlichen insbesondere zu zeigen, dass das, was wir als demokratische Durchsetzungsmethoden bezeichnen, also gewaltfreie Durchsetzung, dass das mittel- und langfristig effizienter, also besser, wirkungsvoller ist. Das ist das Einzige, was zieht. Wir können ihnen nicht sagen, seid nett zueinander. Das kaufen sie keinem Erwachsenen mehr ab. Deswegen setzen wir Trainer ein, die selber aus der Gewaltszene kommen. Eine unserer Startrainerinnen ist eine Jiu Jitsu -Schwarzgurt-Kämpferin. Die ist glaubwürdig, wenn sie sagt, ich könnte euch auch in drei Minuten auf die Matte legen, aber ich mache was anderes, ich sage euch mal, welche anderen Methoden es auch gibt. Dann wird das von der Jugend geglaubt.
Durak: Das ist ein sicherlich in erster Linie körperliche Deeskalation und die geistige, findet die statt?
Roessler: Die geistige ist genauso wichtig, findet auch statt. Überwiegend auf der verbalen Ebene als Rhetorik und als Sprachübung, um den Leuten, den Jugendlichen zu zeigen, wie man sich durch besseres Reden, durch verständlicheres Reden auch mehr Plätze erkämpfen kann. Was hier ganz, ganz wichtig ist, ist zu zeigen, Demokratie ist ein Durchsetzungsmodell, ein Konfliktmodell, es geht nicht darum, nett zueinander zu sein. Demokratie heißt aber, die besseren Spielregeln zu haben, die einer zivilen Gesellschaft auf die Beine helfen. Deswegen sagen wir Leuten: Ihr wollt euch durchsetzen? Ihr wollt stärker sein als andere? Macht das! Neben dem Draufprügeln, was ihr gelernt habt, versucht doch mal, Methoden der verbalen Durchsetzung, Methoden der eher Umgangsweisedurchsetzung zu erlernen, die euch in gewissen Situationen noch weiter bringen.
Durak: Georg Roessler, Deeskalationstrainer am Zentrum für Gewaltstudien, "SOS Gewalt" in Jerusalem.