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Ist die Demokratie in Europa in Gefahr?

Liminski: Die Entstehung der politischen Geographie zwischen links und rechts lässt sich auf den Tag genau datieren. Am 11. September 1789 setzten sich in der französischen Nationalversammlung eine Reihe von Delegierten zur Linken des Vorsitzenden, um so auch physisch ihre ideologische Ausrichtung zum Ausdruck zu bringen. Es waren die sogenannten Liberalen und Vordenker von Gleichheitsmodellen. Die anderen blieben rechts sitzen. Von den rechts wie links sitzenden Herren des hohen Hauses überlebten nicht viele die folgenden revolutionären Jahre, aber auch unabhängig davon waren schon ein paar Jahrzehnte später die Linken mit denen von 1789 nicht mehr zu vergleichen. Das politische Koordinatensystem verschob sich und verschiebt sich laufend. Heute gelten Rechtsextreme als ausländerfeindlich und nationalistisch, Linke als sozialistisch und multikulturell, aber es ist merkwürdig, dass Linke gleichzeitig auch globalisierungsfeindlich sein sollen und dass es Rechte oder Bürgerliche gibt, die den Sozialstaat ausbeulen wollen. Was bedeutet links, was rechts in Europa? Wie ist der neue Rechtsradikalismus einzuordnen? Dazu begrüße ich am Telefon den ehemaligen Außenminister Frankreichs und heutigen Senator Jean Francois Poncet. Guten Morgen nach Paris!

    Poncet: Guten Morgen.

    Liminski: Europa ist geschockt: zuerst das Phänomen Le Pen, eine französische Variante des Rechtsextremismus, jetzt der Mord an dem Rechtspopulisten Fortuyn in Holland. Spalten die Rechtsextremisten Europa?

    Poncet: So etwas kann man nicht sagen. In Frankreich hat der zweite Wahlgang in der Präsidentschaftswahl das Ergebnis des ersten Wahlganges doch zu einem großen Maß ausradiert. Mit 82 Prozent der Stimmen hat sich Chirac und die republikanische Koalition überzeugend durchgesetzt. Le Pen hat sein Ergebnis vom ersten Wahlgang kaum verbessert. Die Franzosen haben mit ihrem Votum im zweiten Wahlgang der extremen Rechten, soweit ich es abschätzen kann, abgeschwört. Verschwunden ist sie natürlich nicht, aber sie hat ihre Grenzen erreicht. Diese Grenzen wird sie nicht überschreiten können, wenn Chirac und seine Regierung eine angemessene Politik einsetzen. Was Holland betrifft, ist das doch etwas ganz anderes, obwohl es natürlich in Holland auch einen Rechtsrutsch gibt. Das gibt es in anderen Ländern auch. Aber ob das eine Gefahr für Europa darstellt, das glaube ich nicht.

    Liminski: Sie haben andere Länder schon erwähnt: Dänemark, Holland, Österreich und so weiter. Ist hier nicht insgesamt ein europäischer Trend zu mehr Nationalismus zu beobachten?

    Poncet: Ich glaube, dass das erschreckende Ergebnis vom ersten Wahlgang in Frankreich doch nie ein Votum gegen Europa war. Die europäische Problematik stand ja nicht im Vordergrund der Wahlcampagne, obwohl natürlich Le Pen ein ausgesprochener Europagegner ist. Natürlich gibt es in Frankreich wie in anderen Ländern scharfe Kritik gegen das Handeln in Brüssel. Was die meisten aber wollen ist ein wirkungsvolleres Europa. Einen richtigen, für Europa gefährlich wieder aufwachsenden Nationalismus gibt es an und für sich nicht. Was die Bürger im Grunde wollen ist nicht weniger Europa, sondern mehr Europa, hauptsächlich ein effizienteres Europa.

    Liminski: Das heißt Sie halten das Aufkommen der Rechtsradikalen in den einzelnen europäischen Ländern für eine "quantité négligeabel"?

    Poncet: Das würde ich natürlich nicht sagen. "Quantité négligeabel" ist der Rechtstrend bestimmt nicht. In den französischen Parlamentswahlen im Juni kommt es wahrscheinlich zu sogenannten Dreiecksentscheidungen, die für Chiracs Partei eine richtige Gefahr darstellen. Die Le Pen-Kandidaten haben ich meine nur wenige Chancen, gewählt zu werden, aber sie werden eine Verhinderungsstrategie verfolgen, die zu Gunsten der Linken wirken wird. Das hat Le Pen ganz klar angekündigt. Ich glaube aber, dass Chirac eine genügende, vielleicht sogar eine erhebliche Mehrheit im nächsten Parlament bekommt.

    Liminski: Ist denn die Frage der Zuwanderung und der Migration nicht ein Megathema, das gerade diese rechtsradikalen Tendenzen begünstigt und das die Politik, insbesondere die Linksregierungen in Europa bisher vernachlässigt haben?

    Poncet: Ja. Ich glaube, dass Zuwanderung und Migration Megaprobleme in Europa sind, Probleme die jeden Tag wachsen. Auf europäischer Ebene müssen unsere Regierungen eine gemeinsame Politik festlegen. Natürlich kann und muss man die Türen Europas nicht schließen, aber die Einwanderungsströme muss man beherrschen. Eine Überdosis von Immigranten gibt es. Illegale Immigration muss gemeinsam und erfolgreich bekämpft werden. Immigration ist aber nicht der einzige Grund des Rechtsrutsches. Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Korruption sind auch entscheidende Faktoren. Energische Maßnahmen müssen auf alle diese Gebiete schnell genommen werden. Soweit ich es beurteilen kann ist gerade das die Absicht von Chirac und die Aufgabe, die die Regierung sich gestellt hat, die neue Regierung in Frankreich.

    Liminski: Glauben Sie, dass man das auch übertragen kann auf andere Länder, in denen es Rechtstendenzen gibt?

    Poncet: Ich glaube die Lage ist von Land zu Land doch sehr verschieden. Einen Trend gibt es. Ob man ihn generalisieren kann, ich glaube da muss man doch sehr sorgfältig antworten.

    Liminski: Wie geht es denn weiter mit der Linken in Europa? Eigentlich hat Jospin im Vergleich mit anderen Ländern in Europa ja gar nicht so schlecht abgeschnitten. Auch die holländische Regierung gilt als erfolgreich. Dennoch wächst die Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Was ist der Hauptgrund für die Unzufriedenheit in der Bevölkerung?

    Poncet: Ich glaube die europäische Linke und ich würde sagen hauptsächlich die französische sozialistische Partei schafft es eben nicht, zur neuen Lage der Weltwirtschaft, zu Anforderungen der Globalisierung sich anzupassen. Der britische Premierminister hat das bis jetzt am besten geschafft. Jospin mit Entscheidungen wie zum Beispiel die 35 Stunden-Woche hängt immer noch an den alten überholten sozialistischen Begriffen. Solange diese Anpassung nicht stattfindet, wird die Linke ihr politisches Gleichgewicht nicht wieder finden. Sie fragen aber, ob es für diese Rechtswanderung einen einzigen Hauptgrund gibt. Ich glaube die Antwort ist nein. Die Unzufriedenheit lässt sich von mehreren zusammenlaufenden Gründen erklären. Schnell wachsende innere Unsicherheit - bei uns ist das wahrscheinlich der wichtigste Grund - Kriminalität, dann natürlich Immigration, Arbeitslosigkeit, Angst vor der Globalisierung. Das Gefühl der Bevölkerung ist, dass ihre Besorgnisse, diese Besorgnisse von den Regierungen in Europa und natürlich von der sozialistischen Mehrheitsregierung in Frankreich nicht ernsthaft angepackt werden. Nur Reden gibt es; die Bevölkerung will Ergebnisse.

    Liminski: Sehen Sie Gefahren für die Demokratie in Europa, vielleicht durch Eruption der Gewalt wie in Holland oder auch durch das Aufkommen von Extremismen, die ja naturgemäß wenig tolerant sind?

    Poncet: Gefahren für die Demokratie sehe ich nicht. Wenn solche Gefahren spürbar wären, wenn sie glaubwürdig erscheinen, wie es nach dem ersten Wahlgang in Frankreich der Fall war, dann gibt es sofort eine fast einstimmige Reaktion, die sich vom Volk aus spontan äußert. Das haben wir doch erlebt. Die Demokratie ist nicht als solche gefährdet, aber Regieren wird jeden Tag schwerer, wenn die Besorgnisse der Bevölkerung nicht richtig in Anspruch genommen werden.

    Liminski: Das war der ehemalige Außenminister Frankreichs und heutige Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses im Senat, Jean Francois Poncet. Besten Dank für das Gespräch!

    Link: Interview als RealAudio