Hüsseyin Bagci: Ja, tatsächlich, diese Frage wurde auch von Prof. Christopher Bertram, von der Stiftung für Wissenschaft und Politik, vor ein paar Wochen gestellt. In der Tat, die Türkei scheint zurzeit bereit zu sein, der Europäischen Union beizutreten, aber ob Europa dazu bereit ist, das ist eine andere Frage. Sicherlich ist die Türkei nicht mehr nur eine wirtschaftliche oder politische Herausforderung, sondern auch eine intellektuelle. Man sollte daher auch von europäischen Seite her zu einem Umdenken bereit sein, dass auch mit dem türkischen Umdenken zusammen kommen sollte, damit beide Seiten sich integrieren können. Auch heute in Berlin, wie aus Ihren Berichten hervorgeht, wird diese Integration gefördert. Dieser Besuch ist sicherlich wichtig, weil Ende Februar der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder Ankara einen offiziellen Besuch abstatten wird, und da wird man sich natürlich in diesem kritischen Jahr 2004 über viele Dinge unterhalten. Und ich nehme an, dass man auch diese politische, wirtschaftliche aber auch intellektuelle Integration irgendwie zu realisieren versuchen wird.
Wiese: Wenn Sie von intellektueller Herausforderung sprechen, Herr Bagci, dann meinen Sie sicherlich auch die Frage der Religion. Viele Menschen in Europa befürchten ja durch den Beitritt der islamisch geprägten Türkei den Verlust der christlich geprägten Identität Europas. Ist da was dran?
Bagci: Das ist richtig, aber es sind natürlich unkonkrete Dinge, die man immer wieder in intellektuellen Diskussionen zusammentragen kann, aber wir reden ja hier über die politischen und demokratischen Werte. Und diese Werte sind nicht ausschließlich nur christliche Werte. Die Demokratie und der Islam sind kompatibel. Deswegen sollte man vielleicht solche intellektuelle Argumentationen, in diesem Fall der Türkei, auf jeden Fall weglassen und versuchen, wie man den Osten und Westen, auch im politischen Sinne, zusammenbringen kann. Ich sehe die Türkei als eine große Bereicherung für Europa. Ich denke, dass die Türkei in vielen Bereichen einen Beitrag leisten könnte. Es ist nicht eine Einbahnstrasse, in der nur die Türkei von Europa etwas will, nein, im Gegenteil. Es ist eine globale Herausforderung, dass die Kulturen, die Religionen zusammenzuleben haben - mehr denn je. Die Türkei spielt dabei sicherlich eine sehr wichtige Rolle.
Wiese: Aber gerade da werden ja Zweifel angemeldet, zum Beispiel Zweifel bei der Einhaltung der Menschenrechte in der Türkei, aber auch Zweifel bei der Frage, ob die Türkei wirtschaftlich reif ist für die EU.
Bagci: Bezüglich der Menschenrechte hat die Türkei in den letzten zehn Jahren sehr viel erreicht. Die Türkei ist nicht die Türkei von vor zehn Jahren. Es gibt eine Verbesserung und es wird auch weiterhin besser werden, je mehr die Türkei sich in Europa integriert. Auf der anderen Seite, wirtschaftlich gesehen, hat die Türkei natürlich strukturelle Probleme, aber auf lange Sicht gesehen, ist Türkei auch ein riesiger Markt und stellt auch etwas auf die Beine und sie ist sicherlich viel besser gestellt als fast alle mitteleuropäische Staaten. Und deswegen kommt es immer darauf an, aus welcher Perspektive man etwas betrachtet. Die Türkei liegt, die Größe betreffend, auf Platz 20 in der Welt. Diese wirtschaftliche Größe ist nicht zu übersehen.
Wiese: Würde die Türkei sich gegebenenfalls mit weniger, zunächst mal mit weniger als der Vollmitgliedschaft zufrieden geben, zum Beispiel mit der sogenannten privilegierten Partnerschaft, wie sie vorgeschlagen wird?
Bagci: Das ist eine politische Entscheidung, wenn die Regierung das so sieht. Aber die Erwartungen in der Türkei sind so, dass die Türkei auf jeden Fall auf Mitgliedschaft hin orientiert ist und die Mitgliedschaft als Endziel auch bestehen bleibt. Wenn die Türkei Ende des Jahres einen Termin für den Verhandlungsbeginn haben würde, dann würde das wirtschaftlich, politisch aber auch psychologisch einen großen Motivationsschub auslösen und die Türkei würde sich noch mehr um Integration in die Europäische Union bemühen. Dieser Privilegiertenstatus ist zwar ein Vorschlag - den man in den europäischen Kreisen diskutiert - aber für die Türkei steht das, nach den Diskussionen hier in Ankara außer Frage.