Erdbebengefahr
Istanbul und die drohende Katastrophe

In Istanbul leben 16 Millionen Menschen - und sie leben auf gefährlichem Untergrund. Ein katastrophales Erdbeben gilt in der Metropole am Bosporus als wahrscheinlich, die Frage ist nur wann. Doch die Stadt ist auf den Ernstfall kaum vorbereitet.

    Stadtansicht von Istanbul in der Abenddämmerung.
    Direkt vor dem atemberaubenden Panorama Istanbuls verläuft die Nordanatolische Verwerfung, eine tickende geologische Zeitbombe. Seit Jahrhunderten stauen sich dort tektonische Spannungen auf, die sich mit gewaltiger Kraft entladen könnten. (picture alliance / Peter Schickert)
    Am 23. April 2025 hat in Istanbul wieder einmal die Erde gebebt – und das nicht nur ein bisschen: Mit einer Magnitudenstärke von 6,2 handelte es sich um das stärkste Erdbeben seit über 25 Jahren. Dass es dabei keine Toten gab, ist ein großer Glücksfall.
    Ein weiteres Beben könnte durchaus noch heftiger sein und weniger glimpflich ablaufen: Etwa 800.000 Gebäude in der türkischen Metropole gelten als nicht erdbebensicher. Trotz der immens großen Erdbebengefahr beklagen Bewohner und Experten, dass zu wenig kontrolliert und saniert wird.
    Warum das Leben in Istanbul so gefährlich ist und was für Möglichkeiten haben die Menschen dort, sich zu schützen?

    Inhalt

    Warum hat Istanbul ein so hohes Erdbebenrisiko?

    Nur 20 Kilometer vom Stadtzentrum Istanbuls entfernt verläuft die Nordanatolische Verwerfung. Entlang der 1500 Kilometer langen Bruchlinie schieben sich die Eurasische Platte und die Anatolische Kleinplatte aneinander vorbei, etwa zwei Zentimeter im Jahr.
    Vor Istanbul ist die Verwerfung auf einer Länge von etwa 150 Kilometern verhakt. Seit mindestens 250 Jahren bauen sich dort tektonische Spannungen auf.

    Wie groß ist die Gefahr eines Mega-Erdbebens in Istanbul?

    Nach heutigem Stand scheint „The Big One“, wie Experten ein Mega-Erdbeben nennen, noch auszustehen. Die Hoffnung, dass es sich bei dem Beben im April bereits um das Hauptbeben gehandelt hat, schwindet, wie der Seismologe Oliver Heidbach vom Geoforschungszentrum Potsdam erklärt: „Der Unterschied zwischen Magnitude 6,2 und 7,4 ist in der Energie, die freigelassen wird, etwa Faktor 60 bis 70. Wir müssten also 70 kleine Beben haben entlang dieses Segmentes statt eines großen, und das haben wir noch nie beobachtet. Das ist leider auszuschließen."
    Auch laut Marco Bohnhoff vom Helmholtz-Zentrum für Geoforschung (GFZ) ist „The Big One“ überfällig. In der Verwerfung bei Istanbul ist über die gesamte Länge des Marmarameeres Energie für ein Beben bis zu einer Magnitude von 7,4 gespeichert. „Diese Energie ist nach wie vor dort im System“, so Bohnhoff.
    Mit fortschreitender Zeit wird ein Mega-Erdbeben immer wahrscheinlicher. Das Beben im April sieht der Experte daher als „Weckruf“. Es könne durch Spannungsumlagerung dazu führen, dass das größere Beben ausgelöst wird.

    Warum ist Istanbul trotz der bekannten Gefahr so schlecht vorbereitet?

    Festes Mauerwerk ist vergleichsweise selten in Istanbul. Die Metropole ist in den vergangenen Jahrzehnten rasant gewachsen, die meisten Bauten sind aus Stahlbeton gefertigt worden, oft von zweifelhafter Qualität. Es ist keine Seltenheit, dass Gebäude in Istanbul auch ohne die Einwirkung eines Erdbebens einstürzen. Bauexperten sehen große Versäumnisse in der türkischen Bauaufsicht. Die Probleme und die Gefahren sind seit vielen Jahren bekannt, aber auch seitens der Regierung wurde lange nichts unternommen, um die bedrohten Regionen in der Türkei erdbebensicherer zu machen.
    In Istanbul gibt es über 1,2 Millionen Gebäude, mindestens 800.000 davon sind nicht erdbebensicher. Nach dem Erdbeben von Izmit im Jahr 1999 sind die Bauvorschriften deutlich verschärft worden. Diese sollen dafür sorgen, dass neu gebaute Häuser im Falle eines Bebens tatsächlich nicht über ihren Bewohnern einstürzen. Doch in einer Metropole mit 16 Millionen Einwohnern ist es fast unmöglich, zu kontrollieren, ob die Vorschriften bei Neubauten immer eingehalten werden. Viele Wohnblocks stehen hier dicht an dicht, teilweise illegal gebaut und ohne Grundbucheintrag, und keiner von ihnen ist auf Erdbebensicherheit geprüft.
    Die meisten Gebäude in Istanbul stammen ohnehin aus der Zeit vor dem Beben in Izmit. Der Baubestand ist also verletzlich, viele ältere Gebäude müssten nachgerüstet werden. Doch solche Sanierungen sind immens teuer. Ein einziges Gebäude umzubauen dauert viele Monate, die Bewohner müssen in der Zeit umziehen. Erdbebenforscher haben vorgerechnet, dass das gesamte Bruttoinlandsprodukt der Türkei für zehn Jahre nötig wäre, um Istanbul erdbebenfest zu machen.

    Wie können sich die Stadtbewohner vor der Katastrophe schützen?

    Das Ministerium für Umwelt, Urbanisierung und Klimawandel arbeitet an einer Strategie zur Stadterneuerung für Istanbul. Am 8. Mai hat eine große Konferenz stattgefunden zu dem Thema, wie Istanbul zukünftig erdbebensicher gemacht wird. Doch es wird wohl noch viele Jahre dauern, bis es soweit ist. Einige renommierte Erdbebenforscher sagen, man könne eigentlich nur eins tun: aus Istanbul wegziehen.
    Besser betuchte Istanbuler verlassen die Stadt auch oder ziehen in den weniger gefährdeten Norden. Doch die große Mehrzahl der Menschen kann es sich nicht erlauben, die Metropole hinter sich zu lassen. Denn Istanbul ist der wirtschaftliche und kulturelle Mittelpunkt der Türkei. Hier sind die Firmen, die Jobs und die Unis.
    Laut Erdbebenexperte Marco Bohnhoff ist der individuelle Schutz der beste. Man sollte „in dem Moment, wo es anfängt zu beben, Schutz unter Türrahmen, Tischen, Stühlen und Betten suchen und warten, bis die Erschütterungen vorbei sind, damit man nicht von herabfallenden Teilen erschlagen wird.“ Nach Ende der Erschütterung sollte man dann schnell ins Freie laufen, da meist Nachbeben folgen, die beschädigte oder teilbeschädigte Häuser schließlich doch noch zum Einsturz bringen.

    pj