
"Die Frau neben mir auf dem Foto ist meine Mutter. Als wir das Erdbeben bemerkten, hielten wir uns in unterschiedlichen Zimmern auf. Wir sind dann beide aufeinander zu gerannt und haben uns im Wohnzimmer getroffen und umarmt."

"Als ich merkte dass sie mich hören und sie anfingen gegen den Schutt zu schlagen, dirigierte ich sie: Nicht dahin schlagen, das ist zu nah an meinem Kopf. Macht hier dies, macht jenes."
Wenige Kilometer entfernt erlebte Avram Kutlu das Erdbeben mit ihrer kleinen Schwester Bilge und Verwandten in deren Sommerhaus vor den Toren Istanbuls. Wie die meisten Menschen in der Region lag Evrim im Bett und schlief, als sie wach wurde, weil das Haus kräftig wackelte:
"Und ich war die ganze Zeit am überlegen: Moment mal, wir bewegen uns, das ist wirklich? Du kannst Dir vorstellen, fast 1,5 bis 2 Meter ging das Ding hin und her und ich war ja im Halbschlaf. Wie kann es sein, dass dieses steinerne, betonhaltige schwere Ding sich so bewegt? Ich habe da die ganze Zeit philosophiert. Bilge schrie dann nach mir: Abla, Abla komm runter."

"Da mussten wir ja durch Kücükcekmece durch, durch Avcilar, Belikdüzü und dann weiter. Das war so schlimm. Also ich kriege immer noch Gänsehaut. Da sah man wirklich Menschen, die mit bloßen Händen nach Leuten gegraben haben, ne, oder geschrien haben."
"Ich habe mich immer unwohler gefühlt und irgendwie in dem Moment dachte ich, es stimmt irgendetwas mit meinem Körper nicht. Kriege ich einen Herzanfall? Ich dachte ich platze, mein Körper platzt irgendwie. Ich habe so zehn Minuten lang so mit mir selber gerungen. Ich war eigentlich entschlossen, jetzt rufe ich einen Krankenwagen an. Ich dachte irgendwie, ich sterbe jetzt. Also ich hatte echt so Schweißausbrüche und alles. Und dann hat es angefangen.
Dabei war die Erschütterung in Städten wie Gölcük und Yalova auf der anderen Seite des Marmarameeres viel massiver.
Während Orhan unter Schock stand, versuchten freiwillige Helfer stundenlang im fahlen Licht der nun hereinbrechenden Dämmerung Ömür aus den Trümmern zu bergen. Die damals 19-Jährige war so sehr eingeklemmt, dass die Rettungskräfte kaum an sie herankamen. Sie konnte sich weder bewegen noch ihren Körper fühlen. Doch sie erkannte ihren Nachbarn Bayram Abi.
"An ihn kann ich mich sehr genau erinnern, denn er hatte mich gefragt: ‘Wie soll ich dich hier rausholen?’ Und ich sagte ihm, er solle mir die Haare abschneiden. Er sagte: ‘Wie soll ich bloß die Haare abschneiden?’ Ich darauf: ‘Willst du mich lieber hierlassen?’"
Das wollte Bayram Abi nicht und schnitt mit einem Messer blindlings zwischen Schutt und Möbelresten um Ömürs Kopf herum. Als die Helfer sie aus den Trümmern herausholten, bedeckten sie Ömür die Augen. So konnte sie keinen Blick mehr auf ihre Mutter werfen, die tot im Schutt des eingestürzten Hauses lag.
"Ich erinnere mich, wie ich danach in den Krankenwagen gelegt wurde. Sie brachten mich ins Staatskrankenhaus nach Bakirköy. Von allen Seiten wurden Menschen hergebracht wegen der Ereignisse in Avcilar."

"Ich habe bewusst natürlich nicht auf die Leichen geschaut. Ich habe keine Gesichter gesehen, ich konnte nicht. Weil wenn du dann so einen Kinderarm siehst und die buddeln da weiter und Du sagst: ‘Ich habe jemanden gefunden und Du weißt nicht, ob das Kind lebt oder nicht, dann drehst du dich schon um, weil du das nicht gucken willst."
"Der Rote Halbmond hat damals nicht geleistet, was man von ihm erwartete, auch alle staatlichen Institutionen waren unvorbereitet. Es kamen sehr viele Hilfsgüter von überall in der Welt und alle wollten sie an AKUT liefern. Sie wollten es keinem anderen geben."
Auch Monate nach dem Beben hatten viele Istanbuler noch Notfall-taschen mit Keksen, Decken, Taschenlampe und Trillerpfeife am Bett stehen - aus lauter Angst vor einem weiteren Beben. Das kam dann wenige Monate später, im November in Düzce, einer Provinz östlich von Istanbul. Seitdem ist es, abgesehen von kleineren Beben, ruhig geblieben. Doch internationale Seismologen sind sich einig: Ein erneutes, schweres Beben ist nur eine Frage der Zeit. Und noch eines gilt als sicher: Beim nächsten Mal wird das Epizentrum noch viel näher an die Millionenmetropole Istanbul herangerückt sein. Denn auf dem Grund des Marmarameeres lauere bereits die nächste Gefahr, sagt Heidrun Kopp, Projektleiterin und Professorin am Helmholtz-Institut für Ozeanforschung in Kiel, denn ihr Team hat herausgefunden:
"Dass also beide tektonischen Platten - Eurasien auf der einen Seite, und die Arabische Platte auf der anderen Seite, nicht mehr glatt aneinander vorbeigleiten können, sondern sich ineinander verhakt haben. Dabei kommt es dann zu einem Spannungsaufbau von tektonischer Spannung. Man kann sich das vorstellen, dass die Gesteine, die darin involviert sind, natürlich einem erheblichen Druck unterliegen im Zuge dieses Spannungsaufbaus und das wird sich irgendwann in einem Erdbeben lösen."
Wahrscheinlichkeit für ein erneutes starkes Erdbeben steigt

"Und das deutet darauf hin, dass sich die Wahrscheinlichkeit für ein Erdbeben dort deutlich erhöht. Und anhand der Messdaten, die wir nun haben, können wir prognostizieren, dass dieses Erdbeben eine Magnitude erreichen kann jenseits von 7 auf der Richterskala bis hin zu 7,5."
Nur wann das Beben kommt, das kann kein Wissenschaftler vorhersagen. Die Vorwarnzeit liegt bei gerade einmal drei Sekunden.

"Aufgeklärt wird auch darüber, wo man sich in einem Gebäude während eines Bebens in Sicherheit bringen kann, dass man die Nähe zu Fensterscheiben meiden sollte, oder, dass man vorsichtshalber Möbel wie schwere Bücherregale und so weiter an der Wand befestigt, dass man draußen im Freien oder in der Nähe stabiler Gebäude Schutz sucht."
"Wir sind zu einem freien Grundstück gegangen. Alle haben sich damals auf solchen Grundstücken versammelt. Heute aber, werden Sie keines dieser freien Grundstücke mehr vorfinden."
"Es ist sehr unterschiedlich: Wir haben einige Felsuntergründe aber auch sehr weichen, sandigen oder kiesigen Untergrund. Was passiert beim Erdbeben? Wenn die Erde bebt, sind bewegliche Untergründe viel stärker betroffen. Weil wenn die Bodenbeschaffenheit sehr schlecht ist, wird der Effekt zwei bis dreifach und manchmal fünffach verstärkt."
Diese Erkenntnis ist nicht neu. Berücksichtigt wird sie in der Praxis aber erst seit dem verheerenden Erdbeben von 1999, sagt Alper Ilki. Das Büro des Professors für Baustatik grenzt direkt an eine Werkhalle, wo die Technische Universität Istanbul Baumaterialien auf ihre Erdbebenfestigkeit prüft.
"Leider war das größte Problem im türkischen Bausektor, dass die Bauunternehmen nicht wirklich die Regeln befolgten. Das Gesetz war verbessert worden, aber die Bauqualität war immer noch sehr schlecht, weil die Vorgaben nicht befolgt wurden und es keine wirksame Kontrolle gab.
"Ein siebenstöckiges Gebäude war stark beschädigt und mehr oder weniger eingestürzt. Wir haben Proben des Betons genommen, einige davon habe ich heute noch in meinem Büro, um sie meinen Studenten zu zeigen. Sie haben Sand aus dem Meer verwendet ohne ihn zu reinigen. Der Beton war sehr schwach im Vergleich zur heutigen Qualität. Es ist ein Wunder, dass diese Häuser nicht schon vor dem Erdbeben eingestürzt sind."
In der Baugesetzgebung hat sich in den vergangenen 20 Jahren viel getan, auch wenn das alte Gesetz nicht ganz schlecht war, wie sich Baustatik-Professor Alper Ilki mit vielen anderen Experten einig ist. Die neuen Gesetze von 2007 und 2019 schreiben jedoch eine bessere Untersuchung des Baugrunds vor. Außerdem müssen Proben des Baustahls und des Betons von einem unabhängigen Labor untersucht werden.
"Früher wurde etwa glatter Baustahl verwendet, der sich im Beton lösen konnte, weil er keine Strukturen hatte. Heute benutzen wir stattdessen verformten Stahl und besseren, vorgemischten Beton. Das führt zu stabileren Konstruktionen. Deshalb kann ich sagen, dass die Jahre 1999/2000 ein Meilenstein in der Qualität der Gebäude in der Türkei waren."
"Manchmal ist es möglich, solche Gebäude zu stabilisieren. Es gibt dafür verschiedene Techniken. Zum Beispiel konventionelle wie die Ummantelung bestehender Säulen oder zusätzliche Stützmauern."
"Ja, es heißt, es wird nur dann gebaut, wenn es für diesen Bauunternehmer auch profitabel ist."
Kritiker wie Orhan Esen sprechen von einer verdeckten Gentrifizierung. Sie bemängeln, dass diese Art von Erdbebensanierung auch in Gebieten mit geringerem seismologischem Risiko zum Zuge kommt, während Viertel, die es viel nötiger hätten, nicht saniert werden, wenn die Aussichten auf Profit nicht hoch genug sind. Um die Sanierung selbst zu finanzieren, fehlt den meisten Wohnungseigentümern schlicht das Geld. Zuschüsse vom Staat gibt es nicht. Trotzdem meint Professor Alper Ilki von der Technischen Universität Istanbul:
"Ich denke, das Stadterneuerungsgesetz ist nicht vollständig, aber doch in gewisser Weise hilfreich. Sicher können nicht alle kritischen Gebäude umgewandelt werden, aber es hilft, den Transformationsprozess voranzutreiben.
In einem Teehaus an der Durchgangsstraße im Stadtteil Avcilar, den das 1999er Beben am schwersten getroffen hat, prallen der Glaube an den Fortschritt und an den Willen Allahs hart aufeinander.
"Nach dem Erdbeben hatten wir wie viele andere auch unser Gebäude auf seine Stabilität hin prüfen lassen. Wir fühlen uns deshalb sicher hier."
Sagt der 51-jährige Zeki. Mehmet, der beim letzten Beben seinen Bruder verloren hat, meint hingegen:
"Ich vertraue der Bausubstanz hier nicht. Und natürlich haben alle Angst - nicht nur wir. Aber was von Gott kommt, geht zu Gott zurück. Da ist nichts zu machen. Was immer das Schicksal für uns bestimmt hat."
"Das Bildungssystem wurde deshalb religiöser gemacht, denn das Volk soll nicht nachfragen. Wir erklären es mit Gottes Wille oder Schicksal und die Sache ist damit erledigt. Sie sagen das Beben machen wir ja nicht, Gott macht es und die, die sterben, sterben halt."