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Italien vor 75 Jahren
Marzabotto - Schauplatz eines bestialischen Verbrechens

Zerstörte Häuser, verbrannte Erde und 770 getötete Männer, Frauen und Kinder: Fünf Tage dauerte das Massaker von Marzabotto, das Einheiten der SS 1944 an der italienischen Zivilbevölkerung verübten. Das Ausmaß der bestialischen Morde hat bis heute Spuren in der Region hinterlassen.

Von Henning Klüver | 29.09.2019
    Außenminister Heiko Maas besucht die Gedenkstätte im italienischen Marzabotto
    Das Massaker von Marzabotto war ein Rachefeldzug der Deutschen gegen die italienische Zivilbevölkerung (dpa)
    Am frühen Morgen des 29. September 1944 umstellen Einheiten der SS und der Wehrmacht das Gebiet um den Monte Sole oberhalb der Ortschaft Marzabotto rund 30 Kilometer südlich von Bologna. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs auf italienischem Boden bilden die zurückweichenden Deutschen immer neue Verteidigungslinien gegen die von Süden vorrückenden Alliierten.
    Gekommen, um zu töten
    Marzabotto gehört zur sogenannten Goten-Linie, die den Durchbruch in die Po-Ebene verhindern soll. Von vier Seiten aus machen sich Einheiten der Deutschen auf den Weg ins Hügel- und Bergland zwischen den Flüssen Setta und Reno. An diesem Morgen ist auch ein junges Mädchen, Angiolina Massa, zusammen mit einer Freundin unterwegs am Monte Sole, wo sie Angiolinas Vater treffen. Später erinnert sie sich:
    "Als wir ankamen, rief mein Vater: ‚Geht zurück, die Deutschen sind schon da!’ Also gingen wir zurück. Wären wir geblieben, wären wir so wie alle anderen gestorben."
    Die Deutschen kommen mit der Absicht zu töten. Der durch die Täler fließende, militärisch wichtige Versorgungsverkehr war in den Wochen zuvor durch Aktivitäten der vom Monte Sole aus operierenden Widerstandsbrigade Stella Rossa empfindlich gestört worden. Im Tagesbefehl für die Operation heißt es:
    "Ziel der Operation ist die Vernichtung der Partisanengruppen und die Säuberung des Feindgebiets zwischen dem Setta- und dem Reno-Tal."
    Rachefeldzug gegen die Zivilbevölkerung
    Die Einheiten der SS und der Wehrmacht setzen teilweise schwere Waffen wie Artillerie ein. Eine kleinere Partisanengruppe können sie noch am 29. September schnell außer Gefecht setzen. Doch dem größten Teil der Partisanen der Stella Rossa gelingt es, sich ins unwegsame Gelände zurückziehen. Unter Befehl von Sturmbannführer Walter Reder, Kommandant der Panzeraufklärungsabteilung der 16. Panzergrenadierdivision, beginnen die deutschen Einheiten eine Art Rachefeldzug gegen die Zivilbevölkerung, die sie als "Bandenhelfer" einstufen.
    "Ein bestialisches Schauspiel"
    Die deutschen Soldaten töten alle, denen sie begegnen. Frauen, Kinder, alte Männer. Sie sperren Menschen in Räume ein und werfen wahllos Handgranaten durch die Fenster. Wer fliehen will, wird erschossen. Sie brennen Häuser, Ställe, Kirchen nieder. Gastone Sgargi, Widerstandskämpfer der Stella Rossa, muss - verletzt in einer Höhle versteckt - dem bestialischen Treiben bei einem Bauernhof unterhalb seines Verstecks zusehen. In einem Dokumentarfilm erzählt er:
    "Das Schlimmste waren die Schreie der Frauen, der Kinder, die getötet wurden. Ein unbeschreiblich bestialisches Schauspiel. Auch das Vieh, halbverbrannt, schrie. Etwas Furchtbares, das wird immer in meinem Kopf bleiben."
    Mindestens 770 Tote
    Fünf Tage dauert das Massaker an über 100 verschiedenen Plätzen in Siedlungen oder vereinzelt liegenden Häusern, die zum Gemeindegebiet von Marzabotto und zwei Nachbardörfern am Monte Sole gehören. Am Ende werden mindestens 770 Menschen getötet. Darunter 216 Kinder und 316 Frauen. Allein Walter Reder muss sich nach dem Krieg bei einem Prozess in Bologna juristisch für sein Tun verantworten. Zu lebenslanger Haft verurteilt, wird er 1985 von Italien begnadigt und stirbt 1991 in Wien.
    Das Leben sei nicht mehr auf den Monte Sole zurückgekehrt, erzählt Andrea Marchi von der Vereinigung der Opfer heute. Nach dem Krieg blieb das Gebiet verlassen. Erst Ende der 1980er-Jahre wurde ein Erinnerungspark eingerichtet.
    "Das ist für die lokale Bevölkerung eine schwierige Erinnerung. Wegen des ungeheuren Ausmaßes des Vorgangs, aber auch wegen seiner Komplexität. Es gibt Stimmen, die sagen, die Partisanen hätten nicht genug getan, um das Massaker zu verhindern. Andere wollen überhaupt nicht erinnert werden."
    Sommercamps gegen das Vergessen
    Im Jahre 2002 besuchte Bundespräsident Johannes Rau zusammen mit dem italienischen Staatspräsidenten Carlo Azeglio Ciampi die Gedächtnisstätte in Marzabotto.
    "Persönliche Schuld tragen nur die Täter. Aber mit den Folgen dieser Schuld müssen sich auch die nach ihnen kommenden Generationen auseinandersetzen."
    In Sommercamps einer Friedensschule auf dem Monte Sole treffen sich seit rund 20 Jahren Jugendliche aus Deutschland und Italien, aber auch aus Palästina und Israel oder aus Irland – um die Erinnerung wachzuhalten und Strategien für eine friedliche Lösung von Konflikten zu entwickeln.