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Italo Calvino
Poetik, keine Politk

Es ist ein Blick in die Vergangenheit, erzählt anhand von Fotos, Briefauszügen und Erinnerungen: Das "Album Calvino" zeigt Italo Calvinos Leben von seinen früheren Schuljahren bis zu den Jahren als berühmter Autor. Der politische Mensch Italo Calvino jedoch wird ausgeblendet.

Von Aureliana Sorrento | 10.01.2014
    Ein Album ist für gewöhnlich ein Bilderbuch, das Schnappschüsse aus einem Leben enthält. Das "Album Calvino" wartet nicht nur mit einer Unzahl von Bildern aus dem Leben Italo Calvinos auf. Es versammelt auch Texte des Schriftstellers, Auszüge aus Briefen, Interviews, Erinnerungen und Dokumenten, die noch nie veröffentlicht oder in Vergessenheit geraten waren.
    Als Kitt der disparaten Teile haben die Herausgeber Luca Baranelli und Ernesto Ferrero einen Text verfasst, der, wie sie im Vorwort kundtun, eine "intellektuelle Biografie" des Schriftstellers Italo Calvino zeichnen soll. Teilweise verfahren sie chronologisch, von Calvinos Geburt in Havanna 1923 bis zu seinem Tod 1985 in Siena. In der zweiten Hälfte des Bandes haben sie das Material aber eher nach Themen organisiert als dem Ablauf der Lebensereignisse folgend.
    Poetische Überlegungen Calvinos
    Da gilt ihre Aufmerksamkeit den poetologischen Überlegungen des späten Calvinos, dem Entstehungsprozess jener Poetik, die in den "Sechs Vorschlägen für das nächste Jahrtausend" ihre endgültige, glänzende Formulierung fand. Calvino hatte diese Vorträge, auch "Amerikanische Lektionen" genannt, 1985 für die Nortorn Lectures der Harvard-Universität verfasst. Er konnte sie nicht mehr halten, weil er am 19. September 1985 an einem Hirnschlag starb; so sind sie sein Vermächtnis an die künftigen Schriftsteller-Generationen geblieben, denen er seine Vision eines vollständig objektiven Werkes anvertraut.
    "Könnte doch nur ein Werk möglich sein, das außerhalb unseres Selbst konzipiert worden ist, ein Werk, das uns erlauben würde, aus der begrenzten Perspektive eines individuellen Ichs auszutreten, nicht nur, um in andere ähnliche Ichs einzutreten, sondern um sprechen zu lassen, was keine Sprache hat, den Vogel, der sich auf die Dachrinne setzt, den Baum im Frühling und den Baum im Herbst, den Stein, den Beton, den Plastikstoff ..."
    Im Kapitel "Vielfältigkeit/ der Amerikanischen Lektionen" entwirft Calvino eine Theorie des modernen Romans als Hypertext, als Netz von Bezügen und Kreuzpunkt aller Erzählmöglichkeiten, die sich dem Schriftsteller bieten. Dieser tut nicht mehr, als die vorhandenen Möglichkeiten miteinander zu kombinieren.
    Entstehung von Calvinos Poetik
    Baranelli und Ferrero heben die biografischen Begebenheiten hervor, die zur Entstehung von Calvinos Poetik beitrugen. In den 1960er Jahren wandte sich der Schriftsteller den Naturwissenschaften zu. Nach seinem Umzug nach Paris im Jahre 1967 kam er mit dem Zirkel des Oulipo, der "Werkstatt für potentielle Literatur" in Kontakt: einer Clique von Literaten um Raymond Queneau und George Perec, die ein ausgeprägtes Interesse für die Naturwissenschaften und Mathematik auszeichnete.
    Für sie war das literarische Werk zwar ein Werk der Fantasie, sollte aber unter Anwendung strenger formaler Regeln entstehen. Aber das lebenslange Streben des Schriftstellers nach Objektivität und Präzision rührte von weit her. Wie er selbst in einem Interview erklärte, war es auf seine Herkunft aus einer Familie von Naturwissenschaftlern zurückzuführen. Mario Calvino, ein Agronom aus San Remo in Ligurien, hatte lange in Mittelamerika geforscht und war erst nach der Geburt des Sohnes Italo mit seiner Frau Eva nach Italien zurückgekehrt. Eva Mameli war die erste Frau, die einen Lehrstuhl in Botanik innehatte. Über seine Eltern schrieb Italo Calvino in einem unveröffentlichten autobiografischen Text, der im Album zitiert wird:
    "Auf meine politische und moralische Erziehung hatte die Persönlichkeit meiner Eltern großen Einfluss: mein Vater blieb ein klassischer Vertreter der alten radikalen, sozialdemokratischen Generation Liguriens...meine Mutter, auch sie Wissenschaftlerin und Mitarbeiterin meines Vaters, mit laizistischen, humanitären und pazifistischen Idealen ausgestattet, war im Unterschied zu meinem Vater stets rigoros und strikt antifaschistisch. Der sichtbarste Ausdruck der nonkonformistischen Haltung meiner Eltern war ihr ostentativer und unbeugsamer Antiklerikalismus."
    Politik spielte eine wichtige Rolle
    Italo Calvino war tief in einer politischen Tradition verwurzelt, die man heute linksradikal definieren würde. In seinem Leben spielte die Politik eine ausgesprochen wichtige Rolle – wie für fast alle italienischen Intellektuellen seiner Generation.
    Kurioserweise wird der politische Mensch Italo Calvino von den Herausgebern des Albums beinah ausgeblendet. Sicherlich: Dass er an der Resistenza in den Reihen der kommunistischen Partisanen teilnahm und nach dem Krieg für die kommunistische Zeitung "L’Unità" arbeitete, können sie wohl nicht verschweigen.
    Aber wie sich das Verhältnis Calvinos zur PCI, der Kommunistischen Partei Italiens, über die Jahre entwickelte, was er unter Kommunismus verstand, welche politischen Debatten in seinen Kreisen stattfanden – darüber erfahren wir kaum etwas. Ein paar Zitate bar jeglicher Einordnung müssen genügen. Calvinos Tätigkeit im Einaudi Verlag, für den er von 1947 bis 1983 als Lektor und Herausgeber arbeitete, nimmt ein ganzes Kapitel ein. Im Nachkriegsitalien war dieser Turiner Verlag die Ideenschmiede der linken Intelligénzija – aber darüber verlieren Baranelli und Ferrero kein Wort.
    Vermutlich scheuten sie davor zurück, ein heißes Eisen anzufassen. Schließlich ist der Band in Italien bei Arnoldo Mondadori editore erschienen. Mehrheitseigner des Verlags ist heute Silvio Berlusconi, der seine politische Karriere auf der Hetze gegen Kommunisten gegründet hat. In seinem Verlagshaus von antistalinistischen Kommunisten zu sprechen, kommt wahrscheinlich einer Majestätsbeleidigung gleich.
    Jedenfalls muss die angekündigte "intellektuelle Biografie" Italo Calvinos auf bessere Zeiten warten.
    Italo Calvino: "Album Calvino"
    S. Fischer Verlag, 366 Seiten, Preis 19,90 Euro.