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Ivo Andrić: "Insomnia"
Der nächtliche Grübler

Schlaflosigkeit quälte den Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić ein Leben lang. In einem posthum zusammengestellten Band gibt er überraschende Einblicke in dieses höchstpersönliche Martyrium. "Insomnia" bietet eine feine aphoristische Nachtmusik.

Von Wolfgang Schneider | 15.02.2021
Der serbische Schriftsteller und Essayist Ivo Andrić und sein Buch "Insomnia. Nachtgedanken"
Der serbische Schriftsteller und Essayist Ivo Andrić und sein Buch „Insomnia. Nachtgedanken“ (Foto: picture-alliance / dpa | Tanjug, Buchcover: Paul Zsolnay Verlag)
Der Schlaf sei ein Bruder des Todes – so lautet eine eher zweifelhafte Spruchweisheit. Was hat ein erfrischender Schlaf mit dem Tod zu tun? Nein, ein entfernter Verwandter des Todes ist eher die Schlaflosigkeit, die zum allnächtlichen Angst- und Verzweiflungstunnel werden kann. Bis endlich der vergiftete Morgen kommt, in den der müde, zerschlagene Mensch nur schwer hineinfindet.
Schlaflosigkeit ist ein bedeutendes literarisches Motiv. Es gibt Autoren, die sie geradezu in den Rang eines universalen Erkenntnismittels erhoben haben, wie der rumänische Philosoph Emil Cioran – aus der totalen Zermürbung kommt die Wahrheit. Nun hat die Bibliothek der Schlaflosigkeit einen bemerkenswerten Neuzugang erhalten. Auch Ivo Andrić, der große kroatisch-bosnisch-serbische oder einfach jugoslawische Erzähler, war ein chronisch schlechter Schläfer. In seinen zu Lebzeiten unveröffentlichten Notizbüchern aus den Jahren 1915 bis 1971 fanden sich zahlreiche Einträge, die die Schlaflosigkeit gewissermaßen als Seinszustand thematisieren oder zu erkennen geben, dass sie während schlafloser Stunden entstanden sind.
Der Band "Insomnia" versammelt diese Notate. Es ist ein dunkles Buch, denn die Stunden der Schlaflosigkeit sind nicht jene, in denen sich heitere Gedanken einstellen. Während die glückliche Mehrheit selig schlummert, wälzt sich der Schriftsteller in seinem glühenden Bett, als wäre er abgeschieden von aller Welt.
"Die Schwierigkeit besteht nicht darin, wie man einschläft, sondern wie man nicht aufwacht… Regelmäßig kommt es vor, dass du gegen drei Uhr nachts aus dem ersten Schlaf hochfährst. Atemnot weckt dich, und das üblicherweise in Verbindung mit einem unangenehmen Traum. Langsam kommst du zu dir, bis du vollkommen wach bist. Und dann beginnt für die Dauer von zwei bis drei Stunden die Zeit des nächtlichen Wachens. Früher hast du Licht angemacht, um zu lesen und so vielleicht Schlaf zu finden. Das machst du jetzt schon lange nicht mehr. Mit letzter Anstrengung drehst du dich um, liegst zusammengekauert und wehrlos im Bett wie ein Mann, der gesteinigt wird."

Fieslinge schlafen gut

In der Schlaflosigkeit kommt die Erinnerung an vergangene Verfehlungen hoch, die nun verzerrt und vergrößert wie unter einer starken Lupe erscheinen und Anlass auswegloser Grübeleien werden. Der Schlaf hat seine Albträume, die Schlaflosigkeit ihre eigenen peinigenden Visionen und Zwangsgedanken. Darunter Erinnerungen an die Zeit, als der junge Andrić 1914, nach dem Attentat von Sarajewo, ein Jahr im Gefängnis saß. Er war damals Mitglied der nationalistisch-revolutionären Organisation "Mlada Bosna" gewesen und mit einem der Organisatoren des Attentats befreundet.
"Nachts, wenn das Blut in meinen Ohren unruhig pocht, höre ich das Getrampel der schweren Soldatenstiefel des Kerkermeisters auf den Betonfluren des Gefängnisses von Maribor. Ton und Rhythmus sind jedesmal anders, aber von immer derselben eintönigen Hartnäckigkeit."
Wie bei Franz Kafka ist auch bei Ivo Andrić die Schlaflosigkeit eine existentielle Prüfung. An medizinischer Hilfe ist er deshalb nicht interessiert. Stattdessen wirkt das Ringen mit den inneren Dämonen wie ein Martyrium, das den Leidenden auszeichnet und abhebt von der Masse der gewöhnlich Schlummernden. Im Erzählwerk von Andrić sind es nicht zufällig die Fieslinge und Bösewichte, die sich eines guten, soliden Schlafes erfreuen. Unschuldig ist niemand; wer seine Nächte gut durchschläft, muss ein gewissenloser Mensch sein. Romane wie "Wesire und Konsuln" sind von lauter Schlaflosen bevölkert.
Der wachste Sinn des Schlaflosen ist das Ohr. Jedes Knarren im Holz wird registriert. Manchmal bekommt der akustische Andrang etwas Infernalisches:
"Was für ein Wind ist das? In der Ferne donnert er wie die Andeutung eines Erdbebens. Wenn er sich nähert, tost und rauscht er, als nähere sich eine endlose Folge von Lokomotiven nebeneinander, und wenn er meine Fenster erreicht, poltert er wie ein betrunkener, verrückt gewordener Passant. Da sie sich nicht öffnen, verwandelt er sich wie in einer Horrorgeschichte plötzlich in einen dünnen Strahl und zieht noch durch die kleinste Ritze hindurch. Dabei pfeift und winselt er so ungewöhnlich, dass der erwachte Mensch (…) die endlose Trauer aller Unruhen und Irrfahrten, aller Einsamkeiten und Verlassenheiten darin hört."

Nachtgedanken über Alter und Tod

Ivo Andrić hat sich nicht nur als Erzähler rasch einen Namen gemacht, sondern zugleich eine Karriere als Diplomat verfolgt. Es war ein Doppelleben mit sorgfältig getrennten Identitäten. Als Chefdiplomat im Dienst des Königreichs Jugoslawien war er ein gewandter Mann, der fließend mehrere Sprachen beherrschte; ein Repräsentant. Als Schriftsteller dagegen hasste er jeden öffentlichen Auftritt, durchlitt jedes Interview, vermied alle Konferenzen und Bekenntnisse. 1939 begann seine heikelste politische Mission an der Botschaft im nationalsozialistischen Berlin. Er wurde empfangen von Göring, Ribbentrop und Ernst von Weizsäcker. Kurz bevor die Wehrmacht 1941 Jugoslawien überfiel, bat Andrić um die Ablösung von seinem Berliner Posten. Die Reibungen seines Doppellebens haben offenbar seine Schlaflosigkeit verstärkt. Schon um 1930 notierte er:
"In derartigem Gegensatz steht das, was ich denke, wenn ich allein bin, zu dem, was ich tue und sage, wenn ich unter Menschen bin, dass ich nach jeder Berührung mit Menschen wie niedergemäht hinfalle und in Schmerzen und Schlaflosigkeit zittere, während durch mich ständig alle Worte hindurchgehen und sich wiederholen, die ich den Tag über ausgesprochen habe, wie die Buchstaben einer Leuchtreklame."
Die "Insomnia"-Notizen sind im Verlauf von sechs Jahrzehnten entstanden. Weil es keine Zeitangaben gibt, sind die Jahre nur an leichten Änderungen des Tons zu spüren. Die glückliche, lebensgierige Schlaflosigkeit des jungen Mannes in einer Sommernacht nimmt sich anders aus als die kraftlos durchwachten Nächte des Alten. Während am Ende Reflexionen des Schlaflosen über Alter, Körperverfall und Tod stehen, liest man in den ersten Abschnitten Erinnerungen an die Kindheit und Jugend, in die sich allerdings auch schon ein leises Entsetzen über die Abgründe des Lebens einschleicht:
"In meiner Kindheit lebte in unserer Kleinstadt, als Marketender und Krämer neben der Kaserne, ein polnischer Jude namens Jankil Gutenplan. Er war der einzige in unserem Städtchen, der Orangen und deutsche Bonbons führte. Und immer, wenn ich aufgeregt in seinen Laden trat, mit ein paar in die Kinderfaust gepressten Kreuzern Orangen auswählend, hörte ich aus dem kleinen Zimmerchen neben dem Geschäft genau denselben spröden und kurzen Husten, der die goldene, üppige Vision verdarb, die mir die Orangen in dem Korb vor mir eröffnet hatten. In dem Zimmerchen lag in Elend und Lumpen die Mutter des alten Jankil und starb dort seit Jahren."

Feinnervige Prosa

Andrić schreibt eine luzide Prosa, die die Abgründe des Lebens mit der Nachtischlampe ausleuchtet. Diese Eleganz lässt aber nicht vergessen, dass "Insomnia" ein Buch der Qualen ist. Zwar versucht sich der Autor zu wappnen gegen den Nörgelton eines routinierten Alterspessimismus. Aber zwischendrin kommen doch immer wieder Gedanken von äußerster Schwärze über den nächtlichen Grübler, in denen ihm der Planet Erde gar als "Sterbezimmer" des Universums erscheint.
Zwischendrin aber gibt es auch Reflexionen über das Schreiben und die Bücher, Charakterbilder, Alltagsskizzen, Schilderungen merkwürdiger Begegnungen. Durch die Verdichtung bekommen die Notate bisweilen etwas Abstraktes. Das schlaflose Ich ist ganz bei sich selbst und sieht von der Welt ab. In Andrić‘ großen Romanen wie "Die Brücke über die Drina" ist es genau andersherum. Dort macht dieser Erzähler keinerlei Aufhebens von sich selbst und konzentriert sich ganz auf die detailsatte Schilderung historischer Welten; allenfalls speist er verdeckt eigene Konflikte in die Psychologie seiner Figuren ein. Andrić wollte in seiner Prosa unsichtbar werden. Diese hohe Diskretion macht es unwahrscheinlich, dass er selbst der Veröffentlichung der "Insomnia"-Notate zugestimmt hätte: Viel zu intim! Umso schöner ist es, dass wir die feinnervige aphoristische Prosa dieses Bandes nun dank der Vermittlungs- und Übersetzungsleistung von Michael Martens auf Deutsch lesen können.
Ivo Andrić : "Insomnia. Nachtgedanken"
aus dem Serbischen übersetzt und mit einem Nachwort von Michael Martens
Zsolnay Verlag, Wien. 190 Seiten, 20 Euro.