Durak: Noch schlimmer ist es ja, wenn wir an den Begriff Reichskristallnacht denken, und gemeint sind die Pogrome an den Juden am 9. November.
Steinbach: Ich denke, da sind wir genau bei dem Kernproblem einer Auseinandersetzung mit der Geschichte des Dritten Reiches, denn wir neigen natürlich dazu, weil unsere Gesellschaft, weil unsere Vorfahren in diese Geschichte verstrickt waren, durch Begriffe die Realität zu verklären und nicht selten Geschichte in Meinung aufzulösen. Begriffe wir Reichskristallnacht verniedlichen eigentlich genauso wie Begriffe Holocaust oder Shoa, denn es geht zum Beispiel um den Völkermord an den Juden, um einen kollektiven Mord und nicht um irgendwie ein theologisch zu verdrehendes Ereignis. Wirklichkeit muss man sehen wollen, man muss sie aushalten, und man muss sie verarbeiten. Das ist, glaube ich, eine der ganz wichtigen Herausforderungen historisch-politischer Bildung.
Durak: Was stimmt Ihrer Meinung nach am Begriff Holocaust nicht?
Steinbach: Ich denke, dass der Begriff Holocaust ein theologischer Begriff ist, der zunächst einmal im ursprünglichen Sinne das ganz und gar von Gott angenommene Opfer bezeichnet. Das ist etwas Positives. Die vielen Millionen Menschen, die im Grunde auf Befehl der Deutschen umgebracht worden sind, können nicht als Opfer im biblischen Sinne empfunden werden, sondern sie sind das Opfer von Menschen, die sich an ihren Mitmenschen vergriffen und sehr schnell zu Gegenmenschen wurden. Das ist ein theologischer Begriff, und ich denke, wir müssen akzeptieren, dass die Geschichte des Dritten Reiches aus der Verantwortung des Menschen für seine politische Ordnung zu erklären ist.
Durak: Ich habe es schon angedeutet, ein anhaltender Geschichtsverlust ist im Denken und Wissen von vielen Deutschen zu bemerken. Worauf ist er wirklich zurückzuführen, wenn wir vor allem an jene Menschen diesseits des Rentenalters denken?
Steinbach: Ich denke, zum Einen wirkt sich aus, dass immer weniger über Geschichte erzählt wird, dass wir in den vergangenen Jahren die Bedingungen für Geschichtsunterricht und damit eben auch für Vermittlung von Geschichte verändert haben, und dass sich natürlich unsere Wahrnehmungsstrukturen permanent wandeln, nicht zuletzt durch das Medium, das wir benutzen, durch das Massenmedium. Heute werden die meisten historischen Ereignisse durch Fernsehdokumentationen, durch Fernsehdiskussionen, durch Dokumentarfilme und viel häufiger auch durch Spielfilme aufgenommen, aber das, was eigentlich die Auseinandersetzung mit Geschichte bedeuten soll, nämlich eine Art Tradierung, auch selbstkritische Tradierung, wird häufig auf diese Weise nicht erreicht. Ich glaube, dass wir da wirklich noch sehr viel in der historischen und politischen Bildung zu tun haben.
Durak: Und dazu gehören Historiker, die dazu beizutragen haben. Weshalb überlassen dann die Historiker, Sie sozusagen als Vertreter, Medien dieses Feld?
Steinbach: Ich glaube, die Geschichtswissenschaft hat in den vergangenen 20, 25 Jahren eine zum Teil fatale Entwicklung genommen. Sie hat sich ganz stark in Meinungsauseinandersetzungen um die Geschichte einbeziehen lassen. Das setzte in den 70er, 80er Jahren ein, Stichwort Historikerstreit. Da ging es dann nicht mehr um die Realität, auch nicht um eine selbstkritische Verarbeitung der Realität, sondern es ging um die Positionierung in politischen Auseinandersetzungen mit Hilfe der Geschichte, und das, denke ich, führt dann im Grunde auch dazu, dass man sich distanziert von Darstellungen, die Historiker bieten, weil die Öffentlichkeit sie mit bestimmten politischen Positionen identifiziert. Das kann zu einem ganz massiven Vertrauensverlust führen.
Durak: Man hat vergessen, für wen man eigentlich arbeitet, für die Menschen nämlich. Lust am Entdecken und Verstehen der eigenen Geschichte wird ja bestenfalls geweckt in der Kindheit und in der Jugend durch die Eltern und in der Schule. Später übernehmen dann andere diese Rolle - wir haben eben darüber gesprochen. Was halten Sie vom Nutzen und Wirkung von offiziellen Gedenkfeiern, wie wir sie jetzt immer wieder erlebt haben, auch am 27. Januar wieder, dem Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz, ist der erste Vertrag zwischen Deutschland und dem Zentralrat der Juden geschlossen worden?
Steinbach: Da bin ich sehr skeptisch, denn ich glaube, dass Politiker, die öffentliches Gedenken inszenieren, sehr stark der Ritualisierung des Gedenkens Vorschub leisten. Wenn Sie einmal vergleichen die Wirkung solcher Gedenkveranstaltungen, die ja heute - ich sage das mal polemisch - an Kranzabwurfstellen stattfinden und eigentlich nur Auftritt ermöglichen, mit den tiefgehenden Wirkungen etwa der Wettbewerbe um den Preis des Bundespräsidenten, die die Körber-Stiftung veranstaltet, dann ist der Unterschied ganz greifbar. Diese Wettbewerbe, die insbesondere von Jugendlichen getragen wurden und sehr respektable Ergebnisse leisteten, haben nicht nur das Geschichtsbild der Beteiligten und der Öffentlichkeit verändert, sondern häufig sogar die Forschung beeinflusst und zu einer völlig neuen, tiefgreifenden, den Menschen einbeziehenden Auseinandersetzung mit der Geschichte geführt. Ich denke, das ist anzustreben, und die Auseinandersetzung um die ritualisierten Erinnerungsorte führt bereits wieder in den Bereich der Politik, damit der Umstrittenheit und damit im Grunde auch der tendenziellen Verluste von Glaubwürdigkeit.
Durak: Vielen Dank für das Gespräch.
Link: Interview als RealAudio