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Jahrestagung der Kriminologischen Gesellschaft
Krise, Kriminalität, Kriminologie

Schaffen Krisen mehr Kriminalität? Darüber diskutierte die Kriminologische Gesellschaft bei ihrer Jahrestagung in Köln. Um Krisen und Kriminalitätserscheinungen verstärkt aus der internationalen Perspektive zu betrachten, waren diesmal Wissenschaftler aus aller Welt eingeladen.

Von Dörte Hinrichs | 01.10.2015
    Der nordrhein-westfälische Justizminister Thomas Kutschaty stellte bei der Eröffnung der Jahrestagung der Kriminologen gleich die zentrale Frage: Schaffen Krisen mehr Kriminalität? Dabei ging er auf die Flüchtlingskrise ein, die Schleuserkriminalität befördert, aber auch auf die Wirtschaftskriminalität, die laut einer Studie von 2014 in Deutschland 80 Milliarden Euro Schaden angerichtet hat. Dass ein weltweit erfolgreicher Konzern wie VW gerade in voller wirtschaftlicher Blüte zu schwerer Kriminalität fähig ist, zeigt, dass kriminelle Machenschaften auch ohne Krisen gedeihen. Der Justizminister kritisierte in diesem Zusammenhang das fehlende Unternehmensstrafrecht in Deutschland – daran wird allerdings gearbeitet. Professor Frank Neubacher, Direktor des Instituts für Kriminologie an der Universität Köln, verwies auf eine Forschergruppe, die gerade dabei ist, die gegenwärtige Sanktionspraxis zu analysieren und die Möglichkeiten der Strafverfolgung auszuloten:
    "Und die Frage, die aus dieser Situation erwächst, auch weil es im Ausland teilweise anders ist, ist die: Kann man nicht strafrechtliche Grundsätze auch auf juristische Personen übertragen? Müssten wir unser deutsches Strafrecht um ein Verbandsstrafrecht und Unternehmensstrafrecht erweitern und wie könnte das aussehen? Das ist die aktuelle Diskussion, die jetzt in Deutschland auch unter den Strafrechtlern dazu geführt werden wird. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass jetzt der Fall von VW das sicherlich noch beschleunigen wird."
    In der Studie gibt es vier Konfliktszenarien
    Der Abgasskandal von VW kann damit als Katalysator für neue Straftatbestände wirken und womöglich Gesetzeslücken schließen. Auch die Auswirkungen der Emissionen auf die globale Erderwärmung beschäftigten die Kriminologen:
    "Das ist ein wirkliches Novum dieser Tagung, dass wir uns fragen, welche Folgen könnten solche Umweltphänomene wie Klimawandel, welche Folgen könnte das für Kriminalität und ihre Kontrolle haben? Wenn wir uns vorstellen, dass es soziale Konflikte, Auseinandersetzungen, Kriege wegen Kampfes um natürliche Ressourcen geben könnte, oder wenn wir uns vorstellen, es gibt große Überschwemmungen in Form des Anstiegs des Meeresspiegels, dann entstehen dadurch nicht nur Konfliktursachen und vielleicht Kriminalität daraus, sondern es wird auch die Reaktion auf Kriminalitätserscheinungen, also die Tätigkeit von Polizei und Justiz wird ja in gleicher Weise beeinträchtigt, wenn Sie etwa an Naturkatastrophen denken.Insofern ist kriminologisch immer beides betroffen: sowohl die Verhaltensseite, was die Kriminalität betrifft, aber auch die Reaktion der Gesellschaft und des Staates."
    Die weltweiten Klimaveränderungen stehen auch am Anfang der Überlegungen von Professor Dirk Messner, Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik. Gesetz den Fall, die Erde würde sich um drei bis vier Grad erwärmen, so der Ausgangspunkt seiner Studie "Klimawandel als Sicherheitsrisiko", welche Folgen hätte das für nationale Gesellschaften? Gerade Länder in Afrika und Südasien die ohnehin schon in schwierigen Entwicklungssituationen sind, könnten sich zu gescheiterten Staaten entwickeln, Gewalt und Bürgerkrieg noch weiter um sich greifen im Kampf um lebenswichtige Ressourcen:
    "In unserer Studie machen wir vier Konfliktszenarien auf: Es geht um Wasserverfügbarkeit und viele Länder werden in Wasserschwierigkeiten hineinlaufen, es geht um Böden, die zerstört werden und austrocknen und da geht es um Nahrungsmittelsicherheit. Es geht dann um Extremwetterereignisse, Meeresspiegelanstieg. Es wird viele Länder viel Geld kosten und sie als ökonomische Akteure schwächen. Und aus all diesen drei Dingen resultiert, dass Existenzgrundlagen von Menschen gefährdet werden, dann haben wir es mit Migration zu tun, das ist das vierte Konfliktszenario."
    Viele verkennen die Dimension der Problematik
    Gut möglich, dass die Flüchtlinge dann nicht nur aufgrund politischer oder religiöser Verfolgung, sondern auch wegen klimabedingter Zerstörung von Lebensgrundlagen bei uns um Asyl bitten – um in den weniger betroffenen Industriestaaten zu leben, die gleichzeitig die wesentlichen Verursacher der Klimakatastrophe sind. Weil die Folgen vielleicht erst in 20-30 Jahren sichtbar werden, so Professor Dirk Messner, verkennen viele Menschen die Dimension der Problematik, werden die bei internationalen Klimakonferenzen vereinbarten Ziele oft nur halbherzig verfolgt. Dabei können die Folgen gravierend sein:
    "Ein Beispiel ist das Amazonas Regenwald-Gebiet. Wir können zeigen mit unseren Modulierungen, dass ab Temperaturerhöhungen, die über drei bis vier Grad hinausgehen, die Wahrscheinlichkeit, dass das Amazonas Regenwald-Gebiet dieses Jahrhundert noch überlebt, immer geringer werden. Und wenn das Amazonas-Regenwald-Gebiet austrocknete, dann wäre das nicht nur ein lokales Ereignis, das wäre ein globales Ereignis, weil das gesamte Klimasystem würde sich verändern, die Wasserverfügbarkeit Lateinamerikas würde sich insgesamt verändern, die landwirtschaftlichen Potenziale des Kontinents würden sich völlig neu bestimmen. Wir wissen nicht, was nach diesem Kipppunkt kommt, aber wir können das Risiko beschreiben."
    Auch die Betrachtungen vergangener Kriege und ihre Folgen beschäftigten die Kriminologen. Professor John Hagan aus Chicago griff den Irak-Krieg auf, berichtete über die Entwicklung des Sicherheitsgefühls in der Region in dieser Zeit und während der Okkupation – aber auch über das Erstarken von islamistischem Terrorismus infolge des Krieges. Klar sei allerdings, dass die USA bzw. einzelne Kriegsverantwortliche nicht vor dem 2002 gegründeten ständigen Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt werden können. Denn die USA, genau wie zum Beispiel Russland, Indien, China oder Israel haben das dem Gericht zugrunde liegende Statut bis heute nicht ratifiziert. Dennoch habe sich einiges getan bei der internationalen Verfolgung von Kriegsverbrechern, meint Professor Frank Neubacher:
    Einblick in die Tätigkeit des beisitzenden Richters
    "Wer hätte es vor 20 Jahren für möglich gehalten, dass Herr Karadzic, Herr Mladic, Herr Milosevic vor Gericht gestellt würden. Vor zehn Jahren hat man sich ja noch lustig gemacht über den Jugoslawien-Gerichtshof, weil man gesagt hat: Die eigentlich Verantwortlichen für das, was in Srebrenica im Sommer 1995 geschehen ist, Mladic und Karadzic, habt ihr eigentlich nicht. Die sind aber inzwischen in Den Haag und stehen vor Gericht."
    Einen Einblick in seine Tätigkeit als beisitzender Richter am UN-Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien gab Professor Frank Höpfel aus Wien. Er beobachtete bei den Verfahren einen Fortschritt der Menschenrechte, indem zum Beispiel stärker auf traumatisierte Zeugen eingegangen wird. Diese leben teilweise heute noch in einem Klima der Angst. Die Opfer bräuchten eine intensive Betreuung vor, während und nach den Verfahren, damit sie überhaupt aussagen. Und nicht immer würde die Zusage der Anonymität, die Gesichts- und Stimmverzerrung bei Aussagen per Video den Zeugen als Opferschutz ausreichen, so Professor Frank Höpfl. Wenn dann schließlich Kriegsverbrecher in Den Haag oft zu jahrzehntelangen Haftstrafen verurteilt werden, gehe es auch um die Wirkung in den betroffenen Ländern, denn:
    "Die Urteile werden nicht so wahrgenommen, wie man sich das wünschen würde und deshalb strengt man sich an durch Wissenstransfer in die betroffene Region. Das ist besonders gegenüber der jungen Generation, die selbst vielleicht noch gar nicht auf der Welt war zur Zeit der angeklagten Delikte, sehr wichtig, dass sie nicht in Vorurteilen weiterleben, die nur transportiert werden zu ihnen."