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Jakuta Alikavazovic: "Das Fortschreiten der Nacht"
Unausweichliche Vergangenheit

Die Geschichte wiederholt sich unausweichlich. Diesem Gesetz folgt die eindringliche Liebesgeschichte, die Jakuta Alikavazovic – französische Schriftstellerin mit jugoslawischen Vorfahren – vor dem Hintergrund einer von Terror und Gewalt geprägten Welt erzählt.

Von Claudia Kramatschek | 08.03.2019
Buchcover: Jakuta Alikavazovic: „Das Fortschreiten der Nacht“
Jakuta Alikavazovic erzählt die Geschichte einer Liebe, die zum Scheitern verurteilt ist (Buchcover: Nautilus Verlag, Foto: Nil Castellví Unsplash.com)
Elias Canetti soll in der Unfähigkeit, die Vergangenheit von der Gegenwart zu unterscheiden, weder eine mentale Störung noch metaphysische Einfalt gesehen haben, sondern einzig das Vorhandensein außergewöhnlicher Liebe. Von einer außergewöhnlichen Liebe, in der die Raster von Vergangenheit und Gegenwart ebenfalls aufgehoben werden, handelt auch "Das Fortschreiten der Nacht". Es ist der vierte Roman von Jakuta Alikavazovic, deren Eltern aus dem ehemaligen Jugoslawien stammen – jener Region in Europa also, wo in den 90er-Jahren blutige Kriege herrschten. Kriege, die die Vorstellung eines friedlichen Zusammenlebens unterschiedlicher Religionen und Ethnien in Schutt und Asche legten. Mehr noch: Glaubt man der Autorin, war mit diesem Krieg der Anfang von einem Ende gesetzt, in dessen Echoraum die westliche Welt sich bis heute bewegt.
Der Jugoslawienkrieg als Matrix
Ihrem Roman – der aufgrund einer von Anfang an gewollten sprachlichen Unschärferelation und seiner irritierend mäandernden Chronologie erst allmählich Kontur und Fahrt gewinnt – dient der Jugoslawienkrieg deshalb als Matrix. Er ist die fortschreitende Nacht, aus der die beiden Liebenden, die im Mittelpunkt des Buches stehen, keinen Ausweg finden. Alles beginnt in Paris. Dort begegnen sich Paul, ein junger mittelloser Mann aus der Pariser Banlieue, und Amélia, die Tochter eines reichen Unternehmers, Anfang der Jahrtausendwende zum ersten Mal. Beide sind Anfang zwanzig. Beide studieren Architektur. Doch Amélia kann es sich leisten, in eben dem Hotel zu leben, in dem Paul als Nachtwächter Geld verdient, um dem Makel seiner eigenen Herkunft zu entkommen.
"Er gab sich Mühe beim Studium, aber er hatte viel mehr zu lernen als seine Architekturkurse, die in verschiedene Fachrichtungen, Perioden und Ansätze unterteilt waren. Er hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen oder dachte, er habe alle Brücken hinter sich abgebrochen oder versuchte, alle Brücken zu seinem Milieu abzubrechen, das er nicht als Milieu, sondern als Zwischenfall betrachtete."
Auch Amélia trägt schwer an ihrer Kindheit: Der Vater kümmert sich nicht wirklich um sie. Ihre Mutter Nadja wiederum – eine Idealistin, die glaubte, mit der Kunst der Poesie die Welt verändern zu können – ist zehn Jahre zuvor im kriegsgebeutelten Sarajevo verschwunden, wo sie in eben jener Hotelkette lebte, in der auch Amélia in Paris zuhause sein wird:
"Als der Krieg in Jugoslawien ausbrach, zog sie ins Elisse von Sarajevo (mein Gott, dachte Paul, der sich zum ersten Mal fühlte, als verstehe er nichts, oder eher, als beginne er gerade erst zu verstehen, und der seine Unwissenheit schon vermisste). Das Hotel, in dem – vereinfachend gesagt – der Konflikt begann."
Der entsetzliche Ursprung der modernen Welt
Eben diesen schonungslosen Krieg, der in der Belagerung von Sarajevo seinen Höhepunkt fand, versuchte die Mutter damals mit ebenso schonungslosen Gedichten zu stoppen. Sie sind, verpackt in einen Karton, alles, was der Tochter seinerzeit von ihrer Mutter bleibt. Amélia gibt ihn weg. Doch die Grausamkeit, vor der sie flieht, kehrt – und das ist das gleißende Herz dieses Romans – nicht nur zurück in ihr eigenes Leben, sondern in die Welt, in der sie und Paul leben. 2005 kommt es in den Pariser Einwanderervierteln zu schweren Krawallen; zwei junge Männer aus der Banlieue sterben auf schreckliche Weise bei dem Versuch, in einem Umspannwerk Schutz zu finden.
"Obwohl sie den Karton ihrer Mutter nicht geöffnet hatte, schien nun alles aus ihm herauszukommen, all die Entsetzlichkeiten, all die Ungerechtigkeiten. Der Karton war der Ursprung der modernen Welt – der Welt laut Amélia Dehr – und beinhaltete sie. Sie glaubte, sie wäre den Karton losgeworden: Aber er hatte die Dimension der Welt angenommen."
Unentrinnbar lässt die Autorin die Liebe der beiden fortan wie ein Projektil auf der Flugbahn dieser Matrix gleiten. Ihr Weg ist vorgezeichnet – sie aber wissen es nicht. Es quält auch den Leser, wie beide verzweifelt versuchen, dem eigenen Schicksal zu entkommen. Und wie sie scheitern, über Trennungen und das erneute Zusammenleben hinweg. Amélia geht eines Tages ohne ein Wort nach Sarajevo, um dort nach Spuren der eigenen Mutter zu suchen – und kehrt ebenso überraschend zurück, wenn auch als gebrochene Frau:
"Er war auf alles vorbereitet gewesen, außer auf das, auf diese Zerbrechlichkeit, die Unsicherheit, die er bei jeder Sache an ihr spürte, als ob der geringste Schritt, das geringste Wort sie eine unendliche Energie kosteten."
Die Geschichte wiederholt sich
Sie ziehen zusammen, doch lieben lässt Amélia sich nur schwer. Paul will sich trennen, sie wird schwanger und bekommt ein Kind. Momentweise hat man das Gefühl, der Roman trete auf der Stelle. Tatsächlich aber übersetzen seine vielen Schleifen nur das Drama, von dem er spricht: dass die Geschichte sich stets wiederholt. Denn Amélia, die nie das eigene Trauma, ein verlassenes Kind zu sein, überwunden hat, ist unfähig, sich um ihre Tochter Louise zu kümmern. Eines Tages verlässt sie Paul erneut. Der wiederum – inzwischen ist er zu einem Experten der Sicherheitstechnik geworden – schließt seine Tochter in einen goldenen Käfig ein, da er nichts so sehr fürchtet wie einen weiteren Verlust. Entkommen kann auch er ihm nicht: Louise, die erst mit 16 Jahren erfahren soll, wer ihre Mutter ist, bricht an eben diesem Tag auf nach Sarajevo, wohin Amélia zurückgekehrt ist:
"Eines Tages, in einer Wolke aus Sand und Staub, die Proportionen von dem einen und dem anderen und der Leere – dieser Wüstenluft – sind nicht klar, erreicht ein Jeep die Basis. Amélia kneift die Augen zusammen. Also dann, sagt sie zu sich selbst, aber ihr verschlucktes Herz schlägt heftig, für einen Moment hat sie den Eindruck, dort unten Paul zu sehen. Paul, als er achtzehn, zwanzig Jahre alt war, aber noch schmaler."
Die Liebe – in Zeiten von Angst und Terror
Für einen kurzen Moment scheint ein glückliches Ende möglich. Tatsächlich kann Amélia ihrer Tochter gegenüber das sagen, was sie Paul gegenüber nicht in Worte fassen konnte: dass sie ihn, auf ihre Weise, liebt. Und noch einmal, ein letztes Mal, kehrt sie zu Paul zurück:
"Da bist du wieder, sagt Paul.
Hier bin ich wieder, sagt Amélia. Er nimmt ihre Hand. Er spürt die Venen, die Sehnen, die abgemagerten Finger. Er kennt ihr Alter, so wie er das seine kennt, aber diese Zahlen sind eine Fiktion, sie sind viel jünger, beide: Ihr Alter ist nur das ihrer Liebe."
Es ist die einzige Gewissheit einer Gnade, die auch dem Leser in diesem letztlich so gnadenlosen Buch am Ende der Lektüre bleibt. Denn ein dunkler Wärmestrom durchzieht ihn von der ersten bis zur letzten Seite. Man könnte ihn missdeuten als koketten Flirt mit dem Fatalismus. Doch Alikavazovics Roman – der nicht zuletzt davon spricht, dass das Schweigen genauso verheerend sein kann wie das Reden – ist davon weit entfernt. Man spürt vielmehr die fiebernde Suche der Autorin nach einer Sprache für die Welt, in der wir leben: eine Welt, durch die sich 1.000 Risse ziehen. Die Suche ist gelungen: Mit "Das Fortschreiten der Nacht" fängt Jakuta Alikavazovic unsere von Terror und Ängsten gleichermaßen heimgesuchte Gegenwart so rauschhaft wie radikal ein.
Jakuta Alikavazovic: "Das Fortschreiten der Nacht"
Aus dem Französischen von Sabine Mehnert
Edition Nautilus, Hamburg. 256 Seiten, 22 Euro.