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James Baldwin: „Nach der Flut das Feuer“
Der lange Weg zur Freiheit

Warum der US-amerikanische Schriftsteller James Baldwin in den vergangenen Jahren eine Renaissance erfuhr, zeigt auch sein Essayband „Nach der Flut das Feuer“. Er machte Baldwin in den 1960er-Jahren schlagartig berühmt und wurde zum Bestseller. Miriam Mandelkow hat ihn neu übersetzt.

Von Maik Brüggemeyer | 16.04.2019
Cover von James Baldwin: Nach der Flut das Feuer; im Hintergrund eine Straßenszene in Harlem 1960
Heute so aktuell wie bei seiner Erstveröffentlichung 1963: James Baldwins Essayband "Nach der Flut das Feuer" (imago stock&people / ZUMA)
James Baldwin veröffentlichte 1962 zwei persönlich gefärbte Essays über das afroamerikanische Leben in den USA. Einer Sie erschienen zunächst im Magazin "The Progressive" und im "New Yorker". Doch die Resonanz war so groß, dass die beiden Texte ein Jahr später unter dem Titel "The Fire Next Time" schließlich gemeinsam in Buchform veröffentlicht und zum Bestseller wurden. Als James Baldwin diese Texte schrieb, war er 38 Jahre alt. Er stammte aus Harlem, war aber mit 24 Jahren nach Paris emigriert. Als afroamerikanischer bisexueller Mann, wollte er den Vorurteilen und Anfeindungen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft entkommen. Doch seine Herkunft holte ihn im Schreiben immer wieder ein.
In einigen US-Bundesstaaten war 1962 die Rassentrennung nur formaljuristisch aufgehoben. Der Rassismus war allgegenwärtig, obwohl Abraham Lincoln bereits 100 Jahre zuvor die Abschaffung der Sklaverei in den Südstaaten erklärt hatte.
Dieses Jubiläum nimmt sich Baldwin zum Anlass seines ersten Essays "Nach der Flut das Feuer", wie er in der deutscher Übersetzung von Miriam Mandelkow heißt. Baldwin schreibt darin seinem 15-jährigen Neffen, der ebenfalls James heißt, einen offenen Brief über Familie und Herkunft, über die Erfahrungen mit Rassismus und Segregation und über die Wut, die aus der Diskriminierung entsteht.
"Alles, was dein Leben ausmacht und verkörpert, ist bewusst so angelegt, dass du glauben sollst, was Weiße über dich sagen. Bitte vergiss nie, dass das, was sie glauben, dass das, was sie tun und dir zumuten, nicht von deiner Minderwertigkeit zeugt, sondern von ihrer Unmenschlichkeit und Angst. Bitte, lieber James, verliere in dem Sturm, der in Deinem jugendlichen Kopf wütet, nie die Wirklichkeit aus den Augen, die hinter den Wörtern Akzeptanz und Integration steht. Du hast keine Veranlassung, so zu werden wie die Weißen, und es gibt nicht die geringste Grundlage für ihre unverfrorene Annahme, sie müssten Dich akzeptieren. Die schreckliche Wahrheit ist, mein Junge: Du musst sie akzeptieren, und zwar mit Liebe. Eine andere Hoffnung gibt es nicht für diese unschuldigen Menschen. Sie sind noch immer in einer Geschichte gefangen, die sie nicht verstehen; und solange sie die nicht verstehen, können sie sich auch nicht davon befreien."
Solidarität statt Gewalt
Baldwin setzt nicht auf Hass und Gewalt, er setzt auf Solidarität: Die weiße Bevölkerung ist ebenso in der Ideologie des Rassismus gefangen wie die afroamerikanische. Und sie muss befreit werden. Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg:
"Du weißt es, und ich weiß es: Dieses Land feiert hundert Jahre Freiheit hundert Jahre zu früh. Wir können erst frei sein, wenn sie frei sind."
In "Vor dem Kreuz", dem zweiten Essay dieses Bandes, der den Untertitel "Brief aus einer Landschaft meines Geistes" trägt, erläutert Baldwin seinen Weg zu dieser von Liebe und Solidarität geprägten Haltung. Er beginnt den Bericht mit seiner Erlösung: Mit 14 Jahren hat Baldwin ein Erweckungserlebnis. Der von seinem Stiefvater, einem Priester, ungeliebte Junge, der sich gefangen fühlt in seiner Herkunft und der Angst seiner Vorfahren, findet zu Gott. Er beginnt, in einer Kirche zu predigen, und zieht dort mehr Leute an als sein Stiefvater, der in einer anderen Kirche auf der Kanzel steht.
Die eigene Vergangenheit annehmen
Doch durch die Literatur und die Gespräche mit seiner Gemeinde erkennt er bald, dass auch die Religion Teil der Geschichte des Rassismus ist, dass der Gott, zu dem er betet, ein weißer Gott ist. Baldwin erkennt seine Predigten als Rache an seinem Stiefvater und die Hölle als Rache an der Welt. Auch die Botschaft der "Nation of Islam" um den Gründer Elijah Muhammad und seinen Gegenspieler Malcolm X, die zu jener Zeit viele Afroamerikaner bewegte, diene nur der Festigung einer durch Rache geheiligten Macht, so Baldwin. Ein Besuch bei Muhammad in Chicago, den er sehr eindrücklich schildert, bestätigt diese Ansicht. Baldwin ist danach überzeugt davon, dass es nicht darum gehen könne, sich einen eigenen Mythos vom auserwählten Volk zu erschaffen und die Herrschaft des weißen Mannes zu stürzen. Die Afroamerikaner müssten vielmehr ihre eigene einzigartige Herkunft und Vergangenheit annehmen.
"Mir liegt sehr viel daran, dass schwarze Amerikaner hier in den Vereinigten Staaten ihre Freiheit erlangen. Aber mir liegt auch an ihrer Würde, am Wohl ihrer Seele, und ich bin gegen jeden Versuch, den Schwarze unternehmen könnten, anderen anzutun, was ihnen angetan wurde. Ich glaube, ich kenne das geistige Ödland, zu dem dieser Weg führt – wir sehen es täglich um uns herum. Es ist eine so simple Tatsache und eine, die offenbar so schwer zu begreifen ist: Wer andere erniedrigt, erniedrigt sich selbst."
Nach wie vor aktuell
Was klingt wie ein Spruch aus der Bibel, ist eine dem persönlichen Leben und der eigenen Erfahrung abgerungene Einsicht. Baldwin predigt nicht mehr, wie er es in seiner Jugend getan hat. Er ist nicht mehr der Hüter einer Wahrheit. Er ist ein Schriftsteller, der eine Geschichte erzählt. Seine Geschichte und die Geschichte seiner Familie, seiner Nachbarn in Harlem und seiner afroamerikanischen Brüder und Schwestern. Und dass sich diese Erzählung problemlos in unsere Gegenwart verlängern lässt, dass sie von Autoren, Musikern und Aktivisten angesichts der jüngsten Gewalttaten gegen Afroamerikaner und der Politik von Donald Trump wieder aufgegriffen und weitererzählt wird, zeigt, dass Baldwin 1962 im Brief an seinen Neffen leider Recht gehabt hat: "Dieses Land feiert hundert Jahre Freiheit hundert Jahre zu früh."
Gemeinsam frei sein – oder untergehen
Freiheit kann nur erlangt werden, wenn alle Menschen, ungeachtet ihrer Hautfarbe und ihrer Religion, befreit werden. Gott habe Noah nach der Sintflut den Regenbogen gegeben, heißt es in einem Gospelsong, der diesem Essayband den Titel gab. Bei der nächsten Heimsuchung werde es kein Wasser mehr sein, sondern Feuer. Entweder die Bürger Amerikas erreichen das neue Land gemeinsam, so lässt sich dieser Satz nach Baldwin deuten, oder sie werden in einer Art Apokalypse untergehen.
"Das Leben ist tragisch, weil die Erde sich dreht und die Sonne unerbittlich auf- und untergeht und eines Tages, für jeden von uns, ein letztes, ein allerletztes Mal untergehen wird. Vielleicht liegt die Wurzel unserer Misere, der menschlichen Misere darin, dass wir die ganze Schönheit unseres Lebens opfern, uns von Totems, Tabus, Kreuzen, Blutopfern, Kirchtürmen, Moscheen, Rassen, Armeen, Flaggen und Nationen einsperren lassen, um die Tatsache des Todes zu leugnen, die einzige Tatsache, die wir haben. Mir scheint, wir sollten uns an der Tatsache des Todes erfreuen – ja, sollten beschließen, unseren Tod zu verdienen, indem wir uns mit Leidenschaft dem Rätsel des Lebens stellen. Wir tragen Verantwortung für das Leben: Es ist das kleine Signalfeuer in der beängstigenden Dunkelheit, aus der wir kommen und in die wir zurückkehren werden. Diese Reise müssen wir so würdevoll wie möglich unternehmen, und zwar um derer Willen, die uns nachkommen".
James Baldwin: "Nach der Flut das Feuer"
Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow
dtv, München, 124 Seiten, 18 Euro