Das Rauschen der Zeit kann sich zum Beispiel anhören wie in jener denkwürdigen Ton-Aufnahme vom 17. November 1924, als James Joyce in Paris aus seinem Roman "Ulysses" las.
Das Vergehen der Zeit als Mythos ist auch eines der Themen des Romans. Er erzählt aus ständig wechselnden Perspektiven und Schreibweisen den Alltag des Anzeigerwerbers Leopold Bloom und einiger Komplementärfiguren in Dublin am 16. Juni 1904 bis in die Nacht des folgenden Tages hinein. So realistisch der Roman in den Details daherkommt, sein eigentliches Gewicht erhält er erst durch Joyce' Aufmerksamkeit für den inneren Bewusstseinsstrom der Figuren, durch dessen Darstellung er ihr verborgenes Geheimleben freilegt.
"Ulysses" zu Beginn unter Pornografieverdacht
Der Roman war knapp zwei Jahre zuvor, 1922, in Paris als Privatdruck erschienen. Für viele Jahre blieb er nur ein Gerücht, von der Zensur verboten wegen seiner angeblich obszönen Stellen, bis – erst 1933 – ein aufgeklärter amerikanischer Richter den Pornografieverdacht ad acta legte. Da war der Roman von den bis dahin wenigen glücklichen Lesern längst als "Jahrhundertwerk" erkannt worden. Zwar hatten einige Autoren wie Arthur Schnitzler in Kenntnis der psychoanalytischen Forschungsergebnisse Sigmund Freuds den inneren Bewusstseinsstrom ansatzweise auch schon verwendet, aber erst Joyce hat in seiner Radikalität diesen "stream of consciousness" auch sprachlich abzubilden vermocht. Hinsichtlich dieser Radikalität ist "Ulysses" bis heute nur Marcel Prousts' ansonsten unvergleichbares Werk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" an die Seite zu stellen. Die beiden bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts hatten sich übrigens einmal im Mai 1921 kurz kennengelernt, sich aber nicht viel zu sagen gehabt. Immerhin beneidete Joyce Proust ein wenig, wie er in einer kurzen Notiz anvertraute:
"Proust kann schreiben, er hat einen bequemen Platz am Etoile, den Fußboden mit Kork ausgelegt und Kork an den Wänden, damit es ruhig ist. Und ich schreibe an diesem Ort, Leute gehen ein und aus. Ich weiß wirklich nicht, wie ich den ‚Ulysses' beenden kann."
Ein "analytisches Stillleben", das Joyce in Prousts Romanwerk zu erkennen meinte, war dem 1882 in der Nähe von Dublin geborenen und in Jesuiten-Schulen erzogenen Iren nie vergönnt. Ein Leben zumeist auch in erniedrigender finanzieller Not, die nach Joyce' wie eine Flucht erscheinenden Abreise aus Irland durch Lohnarbeit als Sprachlehrer mit Stationen in Triest, Rom, Zürich und schließlich Paris nicht ausgeglichen werden konnte.
Vielleicht angesichts dieser Widerstände hat sich Joyce dann von allen Konventionen gelöst, die ihm in seinem Frühwerk noch Orientierung geboten hatten – bis er in dem 1914 herausgekommenen Erzählungsband "Dubliners" und dem 1916 erschienenen "Porträt des Künstlers als junger Mann" sein eigenes verworrenes und noch unausgegorenes Leben in Literatur verwandelte und eindrang
"In jenes Halbdunkel der menschlichen Persönlichkeit mit ihren unterschwelligen Verwicklungen und hinterhältigen Subtilitäten, um verborgene Gezeiten erfahrbar zu machen."
Die Radikalisierung der Seh- und Schreibweisen in "Ulysses" hat Joyce später noch überboten in dem Roman "Finnegans Wake" aus dem Jahr 1939. Zehn Jahre vor dessen Erscheinen hatte er im Mai 1929 aus diesem "work in progress" gelesen.
"Finnegans Wake" voller bizarrer Albträume
War "Ulysses" als "Tagbuch" konzipiert, liest sich "Finnegans Wake" als an der Grenze der Selbstauflösung geschriebenes "Nachtbuch", voller bizarrer Träume und auch Albträume, durch die die Menschheit seit Adam und Eva hindurchgewandert ist. Ein Journalist, der um ein Werkstattgespräch gebeten hatte, musste feststellen:
"Es ist nichts in ihm übrig geblieben, alles ist in sein Buch eingegangen."
In solcher Erschöpfung und auch wegen des Zweiten Weltkriegs in äußerster Lebensbedrängnis verließ Joyce das von deutschen Truppen besetzte Frankreich und wählte das ihm von früher bekannte Zürich als erneuten Fluchtort. Am 13. Januar 1941 ist er dort – nur knapp einen Monat nach Ankunft – gestorben.