Mittwoch, 17. April 2024

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Jami Attenberg: "Ist alles deins!"
Von Macht und Abhängigkeit

Seine Ehefrau hat längst resigniert. Die Tochter sitzt zur Vergebung unfähig am Sterbebett. Selbst seine Enkelinnen soll er noch prägen. Patriarch, Sexist und Schwarzgeldwäscher Victor Tuchman ist ein schrecklicher Mann - der seine Mitmenschen zu Mittätern macht, wie Jami Attenberg zu erzählen weiß.

Von Miriam Zeh | 21.07.2021
Ein Portrait der Autorin Jami Attenberg und das Buchcover von „Ist alles deins!“
"Ist alles deins!" - trügerische Familienidylle über den Tod hinaus (Buchcover Schöffling Verlag / Autorenportrait (c) Zack Smith Photography)
Wehren kann er sich nicht mehr, der alte Victor Tuchman. Ein Herzinfarkt hat den 73-Jährigen, einst erfolgreicher Bauunternehmer in New Jersey, niedergestreckt. Jetzt liegt er bewusstlos im Krankenhaus und vermag kein Wort mehr zu seiner Verteidigung vorzubringen. Dabei verlangt so vieles Erklärung. Victor Tuchman hatte Affären, er bedrängte Angestellte, manche ohrfeigte er sogar, wie seine Ehefrau und seine Kinder. Er war so tyrannisch, jähzornig und rücksichtslos, wie ein Mann es nur sein kann. Tochter Alex weint ihm keine Träne nach.
"Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass er ins Gefängnis gehörte, in diesem Augenblick, wirklich. Wenn er nicht im Sterben läge. […] Kein einziges Mal in ihrem Leben hatte sie von ihm gehört: ‚Es tut mir leid.‘ Bei ihrem Vater ging es nur in eine Richtung, und das stand ihm zu, weil er der Vater war."

Stumme Abrechnung am Sterbebett

Alex ist fest entschlossen, alle Verfehlungen ihres Vaters aufzudecken. Nur so kann sie ihn mit Vergebung verabschieden, glaubt die selbst von ihrem Ehemann betrogene und geschiedene Juristin. Ganz anders Bruder Gary: Der ewige zweite Regieassistent versteckt sich in L.A. – außerstande, zum Tod des verhassten Vaters nach New Orleans zu fliegen. Und auch Mutter Barbra will keine alten Wunden aufreißen, Alex keine Einblicke in ihre Ehe geben. Warum sie all die Jahre bei dem notorischen Fremdgänger, Verbrecher und Schläger geblieben ist?
"‚Ach, Alex.‘ Ihre Mutter vergoss eine edle, diamantene Träne. ‚Du warst immer so klug und wissbegierig, aber du musst nicht jede Kleinigkeit wissen.‘"
Viel mehr wird Alex am Todestag ihres Vaters, den Jami Attenbergs Roman erzählt, nicht erfahren. Nur dem Papier öffnet Barbra Tuchmans Geständnis sich dann doch. Während die adrette alte Damen im Krankenhausflur Runde um Runde spaziert, um ein penibel überwachtes Tagespensum an Schritten zu erreichen, verstrickt sie sich in stumme Rechtfertigungen. Früh beschließt die Tochter jüdischer Eingewanderter, aus ihrem Aussehen Kapital zu schlagen. Der aufstrebende Geschäftsfreund der Familie kommt da gerade recht. Obwohl sie Victors Kontrollsucht früh wittert, willigt sie einer Verlobung ein.
"Ein Ring wurde ihr ins Büro gebracht, per Bote. Amethyst, eingefasst von Diamanten. Sie zeigte ihn Cora, und beide waren sich einig, dass er schön war und ein Zeichen des Erfolgs. Barbras Mutter betrachte ihn prüfend und sagte argwöhnisch: ‚Das sieht nach einem guten Anfang aus.‘
Ich habe gewusst, was ich kriege, Alex, dachte Barbra beim neunzehntausendsten Schritt des Tages."

Die Mittäterinnen erzählen

Dass Jami Attenberg den Täter Familienpatriarchen nicht selbst zu Wort kommen lässt, ist ein kluger Erzählkniff. Es geht der Meisterin des Familiendramas auch gar nicht darum, den Sexisten Victor Teichmann einfach nur an den Pranger zu stellen. Attenberg interessiert sich in ihrem raffiniert multiperspektivisch aufgebauten Roman vielmehr dafür, wie Mitmenschen zu Mittätern und Mittäterinnen werden.
Ehefrau Barbra bleibt fast nichts anderes übrig. Längst sind Konten mit zwielichtigen Einnahmen auf ihren Namen angelegt. Doch auch seine Kinder kopieren bald Victors Manipulationsmechanismen. Selbst eine Enkeltochter wird in der vergifteten Abhängigkeit einer Ehe feststecken mit einem Mann, der dem egomanen Großvater ähnelt.
Jami Attenberg zeichnet für jede Nebenfigur ein plastisches Charakterbild, das uns an diesem Augusttag im Jahr 2018 nicht nur eine jüdische Familie von der Ostküste, sondern auch den Zustand der US-amerikanischen Gesellschaft vor Augen führt. Der Patriarch liegt im Sterben. Wer kann ihn überdauern? Bei Jami Attenberg sind das wieder einmal die Frauen. Ehefrau Barbra erweist sich trotz der zarten Gestalt als zäher Knochen. "Sie war jetzt Witwe, was ihr entsprach. Der Mann, der sie befleckt hatte, war nicht mehr da, und ihre Freunde nahmen sie gern wieder auf. Sie stabilisierte ihre Ressourcen."

Enkelinnen durchbrechen den Hass

Den Müttern und Töchtern der Familie Tuchman gelingt es am Ende, das tyrannische Familienerbe zu durchbrechen, allerdings nicht in aufgesetzter Familienidylle. Denn wen wir lieben, suchen wir aus, lautet die gar nicht zynische Moral bei Jami Attenberg. Und so ist die schönste Katharsis der heimlichen Hauptfigur Alex vergönnt, die sich befreit, von allem und ganz allein.
"Sie rannte sich jenen Hass auf sich selbst vom Leib, den ihr schon in jungen Jahren ein hypnotisches Spektrum von Einflüssen eingepflanzt hatte: das, was ihr Vater sagte und tat, das, was ihre Mutter nicht sagte und tat, Zeitschriften, Fernsehsendungen, Mädchen, mit denen sie auf die Highschool ging, hundert Männer, die ihr auf der Straße hinterherpfiffen, Amerika im Allgemeinen. Sie verabscheute sich, aber sie vergab sich. Die anderen verabscheute sie auch, aber sie vergab ihnen nicht. Sie rannte."
Jami Attenberg: "Ist alles deins!"
Aus dem Englischen von Barbara Christ
Verlag Schöfflung & Co, Frankfurt am Main
320 Seiten, 24.- Euro.