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Jan Koneffke "Ein Sonntagskind"
Pommersche Familiensaga

Seiner eigenen Familiengeschichte und widmete sich der Autor Jan Koneffke in zwei Romanen, "Eine nie vergessene Geschichte" (2008) und "Die sieben Leben des Felix Kannmacher" (2011). Nun hat er die Pommersche Familiensaga zu einer Trilogie erweitert. Der dritte Band "Ein Sonntagskind" zeichnet den Lebensweg seines Vaters Konrad Kannmacher, eines angesehenen Professors der Pädagogik, von den letzten Tagen des Krieges bis in die 90er-Jahre nach.

Von Cornelia Staudacher | 22.09.2015
    "Der Name Koneffka kommt aus dem Polnischen, ist germanisiert mit dem "e" hinten und zwei "f" und Koneffka bedeutet heute Gießkanne. Ursprünglich verbarg sich darin aber auch die Berufsbezeichnung und das war Kannengießer. Ich hab das leicht verschoben zu Kannmacher hin, um mir selbst zu signalisieren, dass trotz authentischen Materials das Ganze eben auch fiktive Anteile hat. Und der Herkunftsort, Freiwalde, eigentlich Rügenwalde, ist der Geburtsort meines Vaters und der Ort, in dem meine Großeltern gelebt haben."
    "Ein Sonntagskind" beruht auf einer Menge authentischen Materials. Das Kuriose ist, dass, als ich auf jeden Fall einen dritten abschließenden Teil schreiben wollte, dass es mir aber an dem entscheidenden Material noch fehlte. Und durch die Publikation des ersten Romans bin ich zu diesem Material gekommen, weil ein ehemaliger Schulkamerad Briefe geschickt hat meines Vaters aus dem Jahr 1945, einige Monate nach Kriegsende, indem er seine Kriegserlebnisse einem Kriegskameraden schildert, sehr ausführlich, sehr detailliert und in einem Stil, einem Gestus, der vollkommen verschieden war von dem Menschen, den ich selbst kennengelernt hatte. Das war frappierend, hat mich schockiert und hat mich umso mehr angestachelt, jetzt darüber zu schreiben, wie jemand mit diesen Erlebnissen und dieser Haltung später zu dem werden konnte, der er geworden ist."
    Konrad Kannmacher ist 17, als er im Winter 1944/45 zum Volkssturm einberufen wird. Den Rat seines Vaters, sich doch lieber als Reserve-offizier zu melden oder zu desertieren, lehnt er als Hitlerjunge ab und begibt sich, seiner Angst vor Kampfeinsätzen zum Trotz, in die Kaserne von Brombach, wo er sogleich eingeteilt wird. Mehrmals gerät er in lebensbedrohliche Situationen; einige seiner Freunde werden vor seinen Augen dahingerafft. Eher zufällig macht ihn der Krieg zum Helden und er erhält sogar das Eiserne Kreuz Erster Klasse. Aber nach dem Krieg und dem Beginn einer neuen Zeit lösen die vermeintlichen Heldentaten Wut und Beschämung in ihm aus und lassen ihn sein Leben lang nicht los.
    "Er hat die militärischen Tugenden vollkommen internalisiert, Opfer-bereitschaft, Kadavergehorsam, alle diese Dinge, aber die national-sozialistische Ideologie eigentlich nicht. Es gibt ja auch diese Zweifel, die er von seinem Vater hat, und es gibt dieses Elternhaus, das besteht nicht nur aus Tante Alma, einer glühenden Nationalsozialistin, sondern auch aus dem Vater, der sogar von der Gestapo verhaftet war, und er wehrt sich zwar dagegen, weiß nicht, wohin er gehört und, auf welche Seite er sich schlagen soll, aber gewisse Zweifel sind gesät. Nach dem Krieg ist es ja auch so, dass er sich nicht, wie viele andere seiner Zeitgenossen, für seine Eltern schämen muss, sondern er kommt sich bei der Wiederbegegnung mit seiner Mutter und seiner Schwester besudelt vor, vom Krieg besudelt."
    Konrad wächst in einer Lehrerfamilie auf, die sich humanistischen Werten verpflichtet fühlt. Er wird zunächst Dorfschullehrer in Schleswig-Holstein, wohin es die Familie nach dem Krieg verschlagen hat. In seiner freien Zeit liest er philosophische Schriften und beschäftigt sich mit Kant - wie schon sein Großvater Leopold im ersten Band der Trilogie.
    Auf einem Philosophenkongress lernt er den einige Jahre älteren Jochen Moosbach kennen, der so etwas wie eine zweite Vaterfigur wird. Er ermutigt Konrad, zu promovieren, und vermittelt ihm in Bamberg eine Stelle als Philosophiedozent, Schwerpunkt Ethik. Die Freundschaft mit Moosbach hilft Konrad, den Circulus vitiosus aus Schuld und Scham, in den er immer wieder hineingerät, zumindest zeitweise zu durchbrechen. Moosbach, der im Krieg desertiert war und für den englischen Geheimdienst gearbeitet hatte, wird für Konrad zum Vorbild eines integren und seinen Idealen treu gebliebenen Menschen.
    "In diesem Umfeld versucht Konrad Kannmacher natürlich nochmal, seine eigene Vergangenheit wieder gut zu machen und einen Status zu erreichen, in dem er sich nicht mehr schämen muss, und zu einer moralphilosophischen Sicherheit zu gelangen, die er vollkommen verloren hat. Und Mosbach bietet ihm diese Möglichkeit. Mosbach nicht allein, sondern eben auch seine Frau Nelly, die im Widerstand gearbeitet hat, und hier ist es zum Beispiel so, dass Konrad absolut fasziniert ist von dieser Frau, und trotzdem wird er es in seinem Leben nie schaffen, einen verborgenen Traum wahr zu machen, mit dieser sehr attraktiven Frau zusammen zu sein."
    Als Moosbach während eines philosophischen Kongresses, an dem sie gemeinsam teilnehmen, unvermittelt stirbt, gerät Konrad in eine tiefe Krise. Seine Ehe mit Jette ist an den im linken Milieu praktizierten Vorstellungen von freier Liebe und offener Ehe zerbrochen. Nach einer kurzen Ehe unmittelbar nach dem Krieg und wechselnden Beziehungen hatte er Jette Anfang der 60er-Jahre geheiratet und zwei Söhne mit ihr bekommen, Ludwig und Lukas. Seine Hoffnung auf eine Verbindung mit Nelli nach dem plötzlichen Tod des Freundes erweist sich als Chimäre. Zumal Konrads Verhältnis zu den Frauen von sehr konventionellen Rollenklischees geprägt ist.
    "Das Frauenbild zerlegt sich in die beiden Seiten, die Heilige und die Hure, was in patriarchalischen Gesellschaften ja gepflegt wird und durch den Krieg natürlich noch einmal verstärkt, vor allem wenn es ein 17-Jähriger ist, der aus einer geborgenen Familie plötzlich in die Schlacht geworfen wird, und völlig vertrieben aus jeder moralischen Sicherheit und jugendlichen Lebensunschuld jetzt sich sozusagen an sehr starren Kategorien festhält. Und die Frauen, denen er begegnet, sind offenbar die - das ist bei Jette der Fall - die er für unschuldig hält, die er für rein hält, und natürlich, das steht ja auch an einer Stelle, für formbar."
    Der Erzähler spart nichts aus, wenn es um Konrads Defizite, seine Versagensängste und Selbstzweifel geht. Hart und unbeugsam geht er mit seinem Protagonisten ins Gericht, ohne ihn je der Lächerlichkeit preiszugeben. Der dem Erzählduktus innewohnende unterschwellige dezente Humor sorgt durchgängig für eine ausgewogene Balance zwischen Tragik und Komik. Jan Koneffke ist ein Meister dieser Erzählkunst wie auch einer dramaturgisch stimmigen Verquickung von Familien- und Zeitgeschichte, von Privatem und Politischem in seinen Romanen. Das Personal ist mit leichter Hand und sanften Strichen klar konturiert - vom zurückgezogen vor den Toren Berlins lebenden ehemaligen Stasimitarbeiter, in dessen Fängen sich Konrad kurzzeitig verstrickt wähnt, bis zum steckbrieflich gesuchten Terroristen, der in seiner Frankfurter Wohnung Unterschlupf sucht. Dem Zeit- und Geschichtskolorit wird auf adäquate Weise Rechnung getragen.
    Der letzte Abschnitt des Romans, der die Zeit zwischen 1990 bis 2007 umfasst, mutet an wie ein Epilog. Konrad lebt inzwischen allein in einer kleinen Wohnung am Mainufer, wo er regelmäßig von seinen beiden Söhnen besucht wird. Während einer Reise, die Lukas, der sich nun als Erzähler und Alter Ego des Autors zu erkennen gibt, mit seinem Vater ins ehemalige Pommern unternimmt, gibt ihm ein alter Bibliothekar eine kaum mehr lesbare Kladde, die er einst in der von der Familie zurückgelassenen Bibliothek gefunden hatte. Diese Berichte des jungen Konrad, geschrieben vor seiner Einberufung in den Krieg, animierten Koneffke zu den sechs dem Roman eingefügten, kürzeren Kapiteln, die "Aus dem Geschichtenheft von Konrad Kannmacher" überschrieben sind: Es sind aus der Zeit gefallene Kabinettstückchen, in denen der Autor seine unerschöpfliche Fantasier- und Fabulierlust, ins Pikareske gesteigert, darauf verwendet, den Träumen und Hoffnungen des jungen Mannes nachzuspüren, der Jules Verne verschlang und in heißen pommerschen Julinächten davon träumte, mittels einer Rakete den Mond zu erobern. Der aber im realen Leben viel mehr geschliddert und gestolpert als kühlen Hauptes seinen Entscheidungen gefolgt ist. Ein Taugenichts des 20. Jahrhunderts, und manchmal auch ein Glückskind!
    "Ich bin ein Sonntagskind, Jungchen, Du weißt ja, mir kann nichts passieren", raunt Konrad seinem Sohn bei seinem letzten Besuch zu und das klingt wie die augenzwinkernde Anmutung eines späten Einverständnisses zwischen Vater und Sohn.
    Die Anschaulichkeit - bisweilen meint man, das strohtrockene Heu auf den Feldern zu riechen und die Milchkannen scheppern zu hören - und die erzählerische Wucht des Romans reißen den Leser mit. Auch im dritten Band der Pommerschen Familiensaga erweist sich Jan Koneffke als ein erfahrener, warmherziger und sprachgewaltiger Erzähler.
    Jan Koneffke: "Ein Sonntagskind"
    Roman. Galiani, Berlin 2015, 582 Seiten, 25,50 Euro.