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Jaron Lanier: "Wenn Träume erwachsen werden"
Warnung vor den Entgleisungen der digitalen Welt

Er ist ein Internetpionier der ersten Stunde: Schon seit Jahrzehnten kritisiert der amerikanische Computerwissenschaftler Jaron Lanier die Kommerzialisierung des Internets und warnt vor der kostenlosen Verwertung menschlicher Arbeit. In seiner Essay-Sammlung "Wenn Träume erwachsen werden" wirft der Breitwanddenker einen Blick auf das digitale Zeitalter.

Von Brigitte Neumann | 21.12.2015
    Jaron Lanier bei der Preisverleihung in der Frankfurter Paulskirche.
    2014 erhielt der Informatiker und Künstler Jaron Lanier den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. (DANIEL ROLAND / AFP)
    Im Sommer 2013 wurde das Internet zu einem unheimlichen Ort. Damals – das zeichnet Jaron Lanier in seiner Rede zur Buchpreisverleihung nach - haben wir von Edward Snowden gelernt, dass User-Daten sozusagen Freiwild sind. Sie werden abgeschöpft und analysiert, für Prognosen unseres Verhaltens, für individualisierte Werbung, zur Fütterung von Empfehlungsautomaten und zur Einschätzung unseres kriminellen Potenzials.
    Datenspender stehen nackt da
    Unsere Daten werden von zwei Seiten eingesammelt: Von staatlichen Geheimdiensten und von den großen Internetfirmen. Die datensammelnden Organisationen wirken im Verborgenen, die Datenspender stehen eher nackt da. Aber was tun sie? Posten weiter auf Facebook, lesen im Kindle, füttern die Algorithmen. Jaron Lanier schreibt 2013 in der New York Times:
    "Mir ist selbst nicht klar, wer an unserer digitalen Passivität schuld ist. Haben wir uns irgendwann aufgegeben?"
    Der heute 55-Jährige ist, das soll hier noch einmal betont werden, kein Kulturpessimist und Maschinenstürmer, sondern ein Internetpionier der ersten Stunde. Als er anfing zu programmieren, das war in den 70er-Jahren, hatte hier noch kaum jemand einen Schimmer von der heraufdämmernden globalen Informationsgesellschaft.
    Kritik an der Überfrachtung der digitalen Technologie
    Er erfand den Begriff der Virtuellen Realität, baute Datenhandschuhe für die Weltraumorganisation NASA, gründete Startups, die er dann beispielsweise an Google verkaufte. Heute lehrt er an der Universität Berkeley und ist als Forscher bei Microsoft Research angestellt. Jaron Lanier ist ein begeisterter Digerati. Aber andererseits auch ein Warner vor den Entgleisungen dieser mächtigen Technik. Keine bequeme Position.
    "In letzter Zeit fühle ich mich wie ein Seiltänzer, der über einer Meute gefräßiger Roboter-Nerds auf der einen Seite und einer Horde sentimentaler Antiquare auf der anderen Seite balanciert. Ich tue mein bestes, um auf keiner der beiden Seiten herunterzufallen."
    Wie die Essays im Band "Wenn Träume erwachsen werden" beweisen, kritisierte Jaron Lanier die Kommerzialisierung des Internets, die kostenlose Verwertung menschlicher Arbeit durch Datensammler und ganz generell die Überfrachtung der digitalen Technologie mit quasi religiösen Erlösungshoffnungen nicht erst in letzter Zeit sondern schon seit Ende der 80er-Jahre. In einem Beitrag für die Seite Edge.org schrieb er damals:
    "Das Schöne am Internet ist, dass es Menschen verbindet, und nur darin liegt sein Wert. In den Menschen. Wenn wir anfangen zu glauben, das Internet selbst sei eine Instanz, die uns etwas zu sagen hat, entwerten wir diese Menschen und machen uns selbst zu Idioten."
    Forderung nach einer regulären Bezahlung aller Internet-Leistungen
    Aber nun hat das Internet eine andere Entwicklung genommen. Und Lanier musste etliche seiner Hoffnungen begraben. Besonders die, dass es neue Verdienstquellen für viele eröffnen würde. Stattdessen begünstigt es eine Enteignung der kreativen Klasse, was Lanier erst Ende der 90er-Jahre klar wurde, als mit ihm befreundete Musiker reihenweise verarmten, weil die Musikindustrie einging. In seinem Essay "Der Mythos von der Künstlichen Intelligenz" fordert er eine reguläre Bezahlung aller Leistungen, die User im Internet zur Verfügung stellen:
    "Als lebendige Menschen können wir nicht anders zurechtkommen. Genau aus diesem Grund wurden Dinge wie Festanstellung, Sparbücher, Versicherungen erfunden - in Anerkennung der Unsicherheit des menschlichen Daseins. Das ist, was wir Zivilisation nennen."
    Deshalb schlägt Jaron Lanier vor, die Infrastruktur des Internets zu korrigieren. Micropayments sollten an all jene User gehen, die einverstanden sind, dass ihre Daten genutzt werden. Zum Beispiel dürfe es nicht sein, dass gewisse E-book-Hersteller sämtliche Unterstreichungen, Notizen, die Lesegeschwindigkeit und den eventuellen Ausstieg aus der Lektüre sammeln und gratis für die eigene Bestsellerproduktion nutzen. Für Jaron Lanier ist das keine Nebensache. Er erinnert an die Bücherverbrennung und fragt:
    "Was ist nun besser für ein Buch: ein Spionagegerät zu sein oder Asche?"
    Machtübernahme durch den digitalen Maoismus
    Jaron Laniers Mutter entstammt einer jüdischen Familie aus Wien, die von den Nazis fast komplett ausgelöscht wurde. Das erklärt seine Sensibilität für verbrannte Bücher und für den, wie er es nennt, digitalen Maoismus, der sich seines Erachtens anschickt, die Macht zu übernehmen. Gemeint ist die Vorstellung, dass menschliche Subjektivität nicht zählt.
    Eine erste Form der Leugnung von Subjektivität war seines Erachtens der Kommunismus. Er ging von dem Menschen als etwas vollständig Empirischem aus, das man gezielt manipulieren und perfektionieren könne. So auch die neuen digitalen Kommunisten – Biotechnologen beispielsweise nehmen überhaupt nur den menschlichen Körper ins Visier und kündigen an, dessen Tod durch Technologie zu besiegen.
    "In der nanotechnologischen Literatur wird häufig behauptet, das ewige Leben sei praktisch in greifbarer Nähe. Mithilfe von Nanotechnologie könne man einen Supercomputer erschaffen, der in kürzester Zeit Nanomaschinen entwickelt, die den menschlichen Körper pausenlos reparieren. Alterserscheinungen gehören damit der Vergangenheit an."
    Gesellschaftliche Kosten der Cyber-Innovationen
    Lanier hält das alles für Humbug und verweist darauf, dass zwar Computerhardware exponentiell leistungsfähiger werde – alle eineinhalb Jahre doppelt so schnell – dass aber die Software furchtbar schlecht sei. Deshalb die vielen Sicherheitsprobleme, die Computerabstürze, nicht mal sein Staubsaugerroboter funktioniere fehlerfrei. Und genau das werde eine Herrschaft der Maschine über den Menschen vorerst verhindern.
    Der Band "Wenn Träume erwachsen werden" versammelt 38 Essays eines blitzgescheiten Breitwanddenkers, eines Computerwissenschaftlers, der die gesellschaftlichen Kosten von Cyber-Innovationen im Blick hat. Die Essays von Jaron Lanier, so flirrend und überbordend ideenreich viele auch sind, bieten dem Leser eine hervorragende Grundlage, um eine eigene Haltung zur Sache zu gewinnen. Und noch etwas bieten sie: das Gefühl, den Entwicklungen nicht ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Und das ist das Beste an ihnen.

    Jaron Lanier: "Wenn Träume erwachsen werden. Ein Blick auf das digitale Zeitalter"
    Essays. Aus dem Amerikanischen von Heike Schlatterer, Sigrid Schmid, Friedrich Pflüger und Violeta Topalova.
    Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 448 Seiten, 25,00 Euro.