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Jason W. Moore, Raj Patel
"Entwertung"

Ein anderer Blick auf die Wirtschaftsgeschichte: Nicht Lohnarbeit und Technik haben den Kapitalismus groß gemacht, schreiben der Historiker Jason Moore und der Ökonom Raj Patel. Grundlage unseres Wirtschaftssystems seien vielmehr unbezahlte Arbeit und Naturverbrauch.

Von Matthias Becker | 22.10.2018
    Collage: Buchcover "Entwertung", rowohlt Verlag. Hintergrundbild. Ein übervölkerter Globus mit Menschen und Fabriken.
    Mit ihrem Buch "Entwertung" wollen die Autoren Jason W. Moore und Raj Patel gängige Vorstellungen der Wirtschaftswissenschaft vom Kopf auf die Füße stellen. (imago/Ikon Images)
    Der Sommer war heiß und trocken, so trocken wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Hitze und Dürre verlangten nicht nur den Menschen einiges ab. Die Getreideernte ist eingebrochen, deshalb steigen die Preise für Viehfutter, Milch und Fleisch. Die Pegel von Rhein und Donau sanken zeitweise so tief, dass die Schiffe nur noch die Hälfte an Ladung transportieren konnten. Kraftwerke mussten die Stromerzeugung zurückfahren.
    Auf einmal wird sichtbar, wie sehr unsere ganze Lebensweise auf klimatischen Voraussetzungen beruht, die nicht länger gesichert sind: Wasserströme, Temperatur, Wind, Regen.
    "Der Klimawandel wird nicht erst in fünfzig Jahren zum Problem werden, sondern in fünf oder zehn Jahren, in manchen Ländern ist er es bereits heute", sagt der Umwelthistoriker Jason Moore. "Der Klimawandel stellt die moderne, Weltmarkt-orientierte Landwirtschaft vor alle möglichen Schwierigkeiten. Die Erträge weiter zu steigern, wird immer schwieriger. Wenn sich der Niederschlag verändert, wenn in vielen Regionen der Erde Wasser knapp wird, die Temperaturen steigen oder der Frost ausbleibt, dann hat all das gewaltige Folgen für die Nahrungsmittelproduktion. Wir erleben die Anfänge einer Kostenexplosion, die durch die Klimaveränderungen ausgelöst wird."
    Jason Moore hat gemeinsam mit dem Ökonomen Raj Patel eine "Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen" vorgelegt, wie das Buch im Untertitel heißt. Diese Weltgeschichte beginnt allerdings erst mit den europäischen Eroberungen im 15. Jahrhundert. Die Autoren erzählen sie auch nicht chronologisch, sondern thematisch gegliedert, nämlich anhand von sieben Dingen: Natur, Geld, Nahrung, Energie, Arbeit, Fürsorge und Leben.
    Wachstum durch Verbilligung
    Was haben diese unterschiedlichen Dinge gemeinsam? Es sind, argumentieren Moore und Patel, Produktionsfaktoren und Produktionsbedingungen, ohne deren Entwertung, Verbilligung und Aneignung das historisch beispiellose Wirtschaftswachstum seit dem 17. Jahrhundert nicht möglich gewesen wäre.
    Die Autoren schreiben: "Der Kapitalismus war deshalb so erfolgreich, weil er auf eine ganz bestimmte Art produktiv ist. Er gedeiht dadurch, dass er natürliche Ressourcen für sich arbeiten lässt - und dies so billig wie möglich."
    Diese Aneignung umfasse nicht nur Tiere, Pflanzen, Flüsse, Wälder und so weiter, sondern auch die unbezahlte menschliche Arbeit, darunter die Hausarbeit und die Sklaverei.
    Mit ihrem Buch wollen die Autoren gängige Vorstellungen vom Kopf auf die Füße stellen. Auch die herkömmliche Wirtschaftswissenschaft kennt unbezahlte Voraussetzungen und unbeabsichtigte Folgen der Warenproduktion. Sie spricht dann von "Externalitäten", manchmal auch von "Ökosystemleistungen" - aber sie behandelt diese insgesamt als Nebensache. Unbezahlte Arbeit taucht überhaupt nicht auf.
    Ist die Natur kostenlos?
    Patel und Moore dagegen sehen in diesen Bereichen etwas Wesentliches: "In der Wirtschaft stellen externe Effekte Kosten oder Erträge dar, die im Produktionskalkül keine Rolle spielen. Wir vertreten die These, dass die moderne Welt aus systematischen Versuchen hervorging, Krisen zu entschärfen, die sich daraus ergaben, dass menschliches und nichtmenschliches Leben unweigerlich doch in das Kalkül einging. Die Welt ist zu der geworden, die sie ist, weil die externen Effekte zurückschlugen."
    Hände werfen von oben Münzen in den Schlitz einer   Weltkugel. Symbolbild.
    Aber welche Zukunft hat das kapitalistische Weltsystem, wenn der Klimawandel grundlegende Produktionsbedingungen untergräbt? (imago / stock&people)
    Kein langfristiges Wachstum ohne die Eroberung neuer billiger Inputfaktoren - dies ist das Grundmotiv des Buches. Moore und Patel entfalten es am historischen Material und arbeiten dabei heraus, wie die "billigen Dinge" miteinander zusammenhängen.
    Dass die billigen Dinge uns immer nur dann ins Bewusstsein dringen, wenn sie gerade abhandenkommen, sei kein Zufall. Das "Natürliche" werde gleichgesetzt mit "kostenlos" und "statisch", "ohne eigene Initiative". Vermeintlich steht es zur freien Verfügung.
    Mittelfristig aber erschöpfen sich die billigen Ressourcen, die Preise steigen und das System gerät in eine Krise. So bilden Ökologisches und Ökonomisches letztlich eine Einheit.
    Wilder Ritt durch die Weltgeschichte
    Aber welche Zukunft hat nun das kapitalistische Weltsystem, wenn der Klimawandel grundlegende Produktionsbedingungen untergräbt? Die Antwort der Autoren lautet kurz und bündig - keine.
    Noch einmal Jason W. Moore: "Gesellschaftsordnungen tun sich immer sehr schwer damit, mit starken klimatischen Veränderungen zurecht zu kommen. Als im 16. Jahrhundert der frühe Kapitalismus mit dem Höhepunkt der Kleinen Eiszeit konfrontiert war, stand dem System noch der ganze Planet zur Verfügung, um billige Energie, Nahrungsmittel und Arbeitskraft einzuführen. Der Kapitalismus von heute kann das nicht mehr. Außerdem ist der Klimawandel, mit dem wir jetzt zu tun haben, um ein Vielfaches stärker als in früheren Epochen."
    "Entwertung" ist ein starkes Buch mit Schwächen. Faszinierende Einblicke wechseln sich ab mit gewagten Behauptungen. Der wilde Ritt durch die Jahrhunderte und die häufigen Sprünge zwischen den Ebenen machen den Leser dieser Weltgeschichte öfter mal schwindelig.
    Aber das berührt nicht den überzeugenden Kern der Argumentation: Ökologische und ökonomische Krisen hängen zusammen, und wenn beide gleichzeitig passieren, können tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzungen nicht ausbleiben. "Entwertung" ist ein Buch zur rechten Zeit.
    Raj Patel, Jason W. Moore: "Entwertung. Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen",
    Rowohlt, 349 Seiten, 24,00 Euro.