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Jean-Baptiste Del Amo: "Tierreich"
Gruselkabinett der Säugetiere

In seinem vierten Roman beschreibt der französische Autor und Tierschutz-Aktivist Jean-Baptiste Del Amo das düstere Leben einer Schweinezüchter-Dynastie. Das unsagbare Leid der Ware Tier geht hier Hand in Hand mit dem tiefen Unglück seiner Verwalter, bis die Grenze zwischen Tier und Mensch verwischt.

Von Cornelius Wüllenkemper | 04.06.2019
Zu sehen ist der Autor Jean-Baptiste Del Amo und das Cover seines Romans "Tierreich".
Jean-Baptiste Del Amo ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Tierschutz-Aktivist (Autorenfoto: Julien Benhamou, Cover: Verlag Matthes & Seitz )
Es geht um eine Dynastie von Schweinezüchtern am Fuße der französischen Pyrenäen. Ausgangspunkt ist ein kleiner Bauernhof mit zwei Schweinen Anfang des 20. Jahrhunderts. Die kleine Eléonore lebt mit ihrer namenlosen "Erzeugerin" und "dem Vater" in kläglichster Armut, im Dreck und Gestank des Hofbetriebs.
"Die ersten Jahre verstreichen zwischen der Pflicht, die Tiere zu versorgen, und den Tagen voller Langeweile in einem mit einem Holzofen beheizten Schulzimmer der Gemeindeschule, dessen Fenster auf einen Hof mit Lehmboden zeigen, der sich beim ersten Regen in eine Schlammsuhle verwandelt. [...] Kaum sechs Jahre, ist ihre Haut an Händen und Füßen von tiefen Rissen durchzogen, aus denen sie mit einer Nadel beim Schein einer Kerze Kieselsteinchen und Gräser, die sich dort festgesetzt haben und manchmal heftiges Bluten verursachen, herausziehen muss."
Lustvolle Grenzüberschreitungen
Wer sich auf Jean-Baptiste Del Amos Fiktion einlassen will, muss sich schnell an ein gerütteltes Maß an lustvollen Grenzüberschreitungen gewöhnen, an ein gezieltes Spiel mit dem Zumutbaren. Denn das Unglück der Menschen wird hier genüsslich als Reaktion auf den Dreck und Ekel in ihrem Alltag zelebriert, Lebenshass wird mit Alkohol oder roher Gewalt betäubt. Das trostlose Joch, das tägliche Leiden dieser Bauernfamilie kurz vor dem Ersten Weltkrieg wird allein durch den hysterischen Katholizismus der "Erzeugerin" mit einem vermeintlich höheren Sinn versehen. Lebensekel, Körperfeindlichkeit, tiefe Scham über die eigene sündige Existenz bestimmen das Szenario.
"Von allen Körperfunktionen ist es die Nahrungsaufnahme, die die Erzeugerin zutiefst verabscheut, sie, die nicht zögert, Rock und Unterrock anzuheben, um sich mit gespreizten Beinen zu erleichtern, wo immer sie sich befindet, mitten auf das Feld, in die Wasserrinne einer Dorfstraße oder direkt auf den Misthaufen im Hof, wo ihre Pisse vermischt mit der der Tiere auf dem Boden entlangrinnt, und die, sollte ihr Bedürfnis ein anderes sein, sich nur rasch hinter einen Busch verzieht, um sich hinzukauern und zu kacken. Sie nimmt nur magere Rationen zu sich, karge Bissen, widerwillig hinuntergeschluckt mit vor Abscheu oder sofortigem Überdruss verzogenem Gesicht. Noch mehr widert sie der Appetit der anderen an. Sie geißelt das Kind und den Mann, die gelernt haben, mit gesenktem Kopf zu essen."
Glücksfälle sind nicht vorgesehen
Dass aus diesem Abgrund nichts Gutes emporsteigen wird, ist schnell klar. Handlungswendungen oder Glücksfälle sind in Jean-Baptiste Del Amos Geschichte nicht vorgesehen. Mit seinen schmuck- und erbarmungsglosen Sätzen zieht er seine Leser immer tiefer in den Schlamm, in dem die Dynastie der Schweinzüchter ihr animalisches Dasein fristet. Mit eiskaltem Blick beschreibt dieser hochtalentierte Autor Gerüche, Verwesungsstadien, jede Art von Körperflüssigkeiten und Unzulänglichkeiten der Säugetiere, ob Mensch oder Schwein. In diesem Gruselkabinett des Abstoßenden bedarf es kaum der Erwähnung, dass unter der "barbarischen Horde der Dorfbewohner" der Inzest blüht und der Pastor seine Ministranten missbraucht. Während die "Erzeugerin" ihre Fehlgeburten neben einer trächtigen Sau im Schweinestall entsorgt, kehrt Eléonores zukünftiger Ehemann, ihr Cousin Marcel, entstellt aus dem Ersten Weltkrieg zurück.
"Eléonore wendet den Blick ab, um ihn nie wieder anders als heimlich auf ihn zu richten, betrachtet also nur verstohlen dieses schreckliche Augenlid, zugenäht über einer Leere, einem Loch, einem blinden und verkümmerten Augapfel – sie wird nie mehr darüber erfahren -, der doch unfassbare Gräuel, unsägliche Bilder versiegelt, die Marcel jede Nacht aus dem Bett springen lassen wie einen Springteufel aus der Schachtel."
Kein Unterschied zwischen Mensch und Tier
Bei seiner Hochzeit erfährt dieses Paar tatsächlich einen "kurzen Anflug von Glück", um alsbald wieder im Meer von Schlamm, Blut, Trauer und Selbsthass zu versinken. Das eigentliche Schicksal der Dynastie spielt für die Wirkung dieses Romans keine besondere Rolle und ist schnell erzählt: Eléonore und Marcel kaufen einige Tiere zum elterlichen Hof dazu und legen damit den Grundstein zu einem industriellen Landwirtschaftsbetrieb, der das Züchten, Mästen und Schlachten der Massenware Tier perfektioniert. Interessanter als die Handlung dieses Romans, der nichts erklärt, nichts weiß, aber auch wirklich alles bis ins letzte Detail beschreibt, ist seine Perspektive auf die Welt. Über hunderte Seiten wird hier fast ausschließlich geboren, gestorben, verwest, ausgeschieden, uriniert, geblutet, gesäugt, kopuliert. Viele dieser Szenen kippen dabei unfreiwillig ins Groteske. Der Unterschied zwischen Mensch und Tier ist per se aufgehoben, denn beide sind ausweglos ihrem Schicksal unterworfen. Individualität entsteht auch beim Menschen allenfalls durch biologische Intuition, durch Gewalt und Reflex. Dieses Buch sagt ebenso viel aus über die beträchtlichen literarischen Fähigkeiten des Autors wie über seine lustvolle Obsession des Ekels, wie man sie mit billigem Affekthunger auch im Dschungelcamp erleben kann. Will man sich diese Litanei von Blut, Gestank und Exkrementen wirklich antun? Über die vielschichtige Bedeutung des menschlichen Ekelempfindens hat die Psychologie äußerst spannende Erkenntnisse zu bieten. Und auch wer sich über die Barbarei der Massentierhaltung informieren möchte, ist mit einem Sachbuch besser beraten.
Jean-Baptiste Del Amo: "Tierreich"
Aus dem Französischen von Karin Uttendörfer
Matthes und Seitz Berlin. 440 Seiten, 26 Euro.