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Jean-Henri Fabre: "Erinnerungen eines Insektenforschers"
Das Wunder des Lebens

Als den "Homer der Insekten" hat man Jean-Henri Fabre, den Wegbereiter der modernen Verhaltensbiologie, schon bezeichnet. Namhafte Persönlichkeiten seiner Zeit wie der Philosoph Henri Bergson oder der Schriftsteller wie Romain Rolland zählten zu seinen begeisterten Lesern. Nun ist die Werkausgabe komplett.

Von Astrid Nettling | 03.07.2020
Jean-Henri Fabre: "Erinnerungen eines Insektenforschers" Zu sehen sind Jean-Henri Fabre bei der Insektenbeobachtung an seinem Schreibtisch und das Buchcover
"Ihr schlitzt das Tier auf, ich studiere es lebend" - Jean-Henri Fabre in seinem Element (Foto: picture alliance / dpa / akg-images / Cover: Matthes & Seitz Verlag)
Käfer sind es dieses Mal, denen Jean-Henri Fabre im zehnten Band seiner "Souvenirs Entomologiques" vor allem Aufmerksamkeit schenkt. Sei es dem Minotaurus Typhoeus, dem Onthophagus taurus, dem Mononychus pseudo-acori oder dem Carabus auratus – Tiere mit großen Namen, obwohl sie zu den Allerkleinsten gehören.
Doch sie offenbaren uns, wird Fabre auch in diesem Band nicht müde zu betonen, "mit ihrem unerhörten Reichtum an Instinkten, Verhaltensweisen und Gestalten eine neue Welt, so als sprächen wir mit Bewohnern eines anderen Planeten. Daher schätze ich Insekten und erneuere ständig meine nie langweilig gewordenen Beziehungen zu ihnen."
Nicht nur Idylle
So vertieft Fabre diesmal seine Bekanntschaft unter anderem mit dem Minotaurus Typhoeus, dem – trotz seines gefährlichen Namens – kreuzbraven Stierkäfer. Er untersucht den komplizierten Bau seiner tief in die Erde gegrabenen Bruthöhlen, beobachtet die fürsorgliche Vorratsbeschaffung für den Nachwuchs und schließt mit einem Lob auf den Familiensinn dieser emsigen Pillendreher aus der Familie der Mistkäfer. "Wenn er zum letzten Mal die Beine versteift, kann er sagen: Ich habe meine Pflicht getan."
Selbst ein liebevoller Familienvater gehört Fabres Sympathie zweifellos diesen familiär Engagierten. Doch sein unbestechlicher Blick enthüllt dem Leser ebenso, dass die Welt der Insekten mitnichten einer Idylle gleicht. Dies am Beispiel eines anderen Winzlings mit dem schönen Namen Carabus auratus oder Goldlaufkäfer – einem wahren Schlächter unter den Käfern.
Nicht von ungefähr erwähnt er zu Beginn die Schlachthöfe von Chicago, "diese entsetzlichen Fleischfabriken, weil uns der Goldlaufkäfer beim Schlachten ein ähnliches Tempo zeigen wird". So muss er mit ansehen, wie 25 dieser Winzlinge in kürzester Zeit 150 kräftige Raupen erledigen. "Nach wenigen Minuten sind nur ein paar zuckende Fleischfetzen übrig."
Und wie stets bei Fabre darf die Moral nicht fehlen: "Was lehren uns die Schlachthöfe von Chicago und die Schlemmereien des Laufkäfers? Der Darm regiert die Welt. Solange es Mägen gibt, um zu verdauen, müssen sie gefüllt werden."
Zehn Jahre sind es her, dass der Berliner Matthes & Seitz Verlag mit der Gesamtübersetzung des Fabre'schen Lebenswerks begonnen hatte. Nun ist der zehnte und letzte Band seiner "Souvenirs Entomologiques" auf Deutsch erschienen. Meike Rötzer hat als Lektorin das Übersetzungsprojekt von Anfang an begleitet:
"Es begann damit, dass mein Mann als Student, Andreas Rötzer als Student, in einem Antiquariat in Passau arbeitete und da beim Einsortieren der Bücher schon auf Jean-Henri Fabre traf und ganz begeistert war. Und später als Verleger hat er es unbedingt verlegen wollen, die Werkausgabe, hatte aber natürlich das Geld nicht, um solch eine immense Textmasse übersetzen zu lassen. Und dann war ein Autor von uns auf einer Ernst-Jünger-Tagung, der war ja auch begeisterter Entomologe, und erzählte uns von dieser Tagung, und so ganz en passant flocht er ein, ja, da sei ein Pfarrer in Dinkelsbühl, der übersetze wohl gerade den Fabre nur für sich. Andreas Rötzer hat sofort Kontakt aufgenommen, ist dann kurzentschlossen nach Dinkelsbühl gefahren und lernte dort eben Herrn Koch kennen und kam dann mit tausendseitigen Papierpacken zurück nach Berlin."
Die Physik der Tiere
Fabre selbst hat sein umfangreiches Lebenswerk in kontinuierlicher Folge und mit zunehmendem Erfolg in einem Zeitraum von rund dreißig Jahren zwischen 1879 und 1907 veröffentlicht. Von dessen Verkauf bestreitet er den Lebensunterhalt für sich und seine vielköpfige Familie. Ein geplanter elfter Band konnte zu seinen Lebzeiten nicht mehr erscheinen. Zwei seiner nachgelassenen Texte hat der Verlag mit aufgenommen.
Einen Text über die gefräßige Kohlweißlingsraupe sowie über das gar nicht so harmlose Glühwürmchen, das eigentlich ein Käfer ist, dessen komplizierte "Pyrotechnik" allerdings auch Fabre nicht vollständig zu enträtseln vermag: "Dies ist das Geheimnis der Physik der Tiere und wird es noch lange – vielleicht für immer – bleiben, denn ihre Physik ist kenntnisreicher als die Physik unserer Bücher".
Die tausendseitigen Papierpacken, die Friedrich Koch, evangelischer Pfarrer in Ruhestand und Fabre-Begeisterter, ins Deutsche gebracht hatte, waren ein gewichtiger Start, aber dennoch erst der Anfang des ganzen Projekts, erzählt die Lektorin Meike Rötzer weiter:
"Diese Papierpacken waren dann handschriftlich, sie kamen zu uns wirklich von der linken oberen Ecke bis zur Rechten in gestochener Handschrift, die gestochenste, die ich jemals gesehen habe, ausgefüllt und, wir haben es dann alles abgetippt. Wir hatten ja nun diese Rohübersetzung, wussten aber, jetzt musste der Text noch bearbeitet werden wie eigentlich jede Übersetzung. Glücklicherweise sagte Heide Lipecki zu. Sie war ja dreißig Jahre lang Redakteurin bei Sinn und Form, war uns daher bekannt wirklich in ihrer Brillanz, in ihrer Sprachmacht. Und sie hat es dann geschafft, sich Satz für Satz vorzuknöpfen und wie ein Organist sich für ein Register, ein Wortregister, zu entscheiden. Und in dem Sinne hat sie den Fabreschen Ton erfunden oder ins Deutsche gebracht. Das ist eine ganz außerordentliche Leistung. Ohne sie wäre dieser Fabre, wie er jetzt vorliegt, dieser deutsche Fabre, gar nicht da."
Das Ethos des Beobachters
"Studien über den Instinkt und die Sitten der Insekten" hatte Fabre als Untertitel für seine "Erinnerungen" gewählt. Wie wunderbar altmodisch klingt die Rede von den Sitten und zugleich wie 'menschlich'. Macht doch die Beschreibung dieser von uns so grundverschiedenen Lebewesen, als wären sie bloß unbekannte Völkerschaften, deren Sitten und Gebräuche uns doch nicht so ganz fremd sind, viel vom Charme seiner "Souvenirs Entomologiques" aus.
Getragen werden seine Studien zugleich von einem nicht nachlassenden Staunen über das Wunder des Lebens, das diese geflügelten, gepanzerten oder bepelzten Lebewesen ihm, dem Insektenforscher, offenbaren: "Das Insekt zeigt uns das Leben in seiner unerschöpflichen Vielfalt. Es hilft uns, das dunkelste aller Bücher ein wenig zu entziffern: das Buch unseres Selbst."
Auch in seinem letzten Band finden wir Fabre in Sérignan, einem kleinen Flecken in der Provence. Recht spät, erst im Alter von 56 Jahren, hatte er dort sein "Paradies auf Erden" gefunden. Ein brachliegendes Stück Land, seinen "Versuchsgarten lebendiger Insektenforschung", wo der mittlerweile 84-Jährige nach wie vor seine faszinierenden Einblicke in die Lebens- und Arbeitsweisen, in die Überlebenskämpfe und Fortpflanzungsgeheimnisse seiner sechsbeinigen "Freunde" gewinnt.
Bewegt von einem Forscherethos, das er von Anfang an nicht zuletzt der modernen Naturwissenschaft ins Stammbuch geschrieben hatte: "Ihr schlitzt das Tier auf, ich studiere es lebend; ihr arbeitet in einer Werkstatt, wo gefoltert und zerstückelt wird, ich beobachte unter blauem Himmel beim Gesang der Zikaden; ihr behandelt Zellen und Protoplasma mit Chemikalien, ich studiere den Instinkt in seinen erhabenen Formen; ihr erforscht den Tod, ich erforsche das Leben."
Eine Welt im Verschwinden
Von dem österreichischen Künstler und Illustrator Christian Thanhäuser stammen die feinen, wie mit leichter Hand hingetuschten Federzeichnungen von Insekten, die die Texte Fabres in allen zehn Bänden begleiten:
"Fabre wollte ja das Insekt immer als lebendiges Insekt zeigen, nicht als aufgespießtes totes Ding. Und eben das hat sich Christian Thanhäuser zu Herzen genommen. Deshalb hat er sich entschieden, das mit Tinte zu machen, diese Federzeichnungen, denn Tinte spritzt und kleckst ja auch, und er hat es geschafft, wenn Sie da mal so einzelne Zeichnungen sich ansehen, da ist dann wie ein Wirrwarr von Strichen und Klecksen und Bewegungen, das scheint wirklich ein Wespenschwarm zu sein, der dann aus den Seiten geradezu heraussteigt."
Fünf Jahre sollten es ursprünglich werden, zehn Jahre sind es geworden, bis das engagierte Projekt mit dieser rundum stimmigen Werkausgabe seinen erfolgreichen Abschluss gefunden hat. Eine "Erinnerung" stellen Jean-Henri Fabres "Souvenirs Entomologiques" heute – mehr als hundert Jahre, nachdem sie entstanden sind – allerdings, so Meike Rötzer, noch in anderer Hinsicht dar:
"Die Ökologiebewegung der letzten Jahre hat sicherlich dazu beigetragen, dass man ihn wieder zur Hand nimmt und liest, insbesondere deshalb, weil er Fragen an die Natur stellt, er befragt wirklich das Objekt der Betrachtung. Ab dem sechsten Band ungefähr, da hab' ich es auch mit einer gewissen Wehmut gelesen. Mir wurde immer klarer, dass diese Insekten, von denen ich dort lese, die Vielfalt, der Reichtum, dass es diese nicht mehr gibt. Und deswegen wurden diese Bände immer mehr zu einem Archiv einer vergangenen Welt, die aber umso lebendiger geschildert worden ist."
Jean-Henri Fabre: "Erinnerungen eines Insektenforschers. X"
Aus dem Französischen von Friedrich Koch und Ulrich Kunzmann,
bearbeitet von Heide Lipecky
Mit einem Nachwort von Jean-Christophe Bailly
Mit Federzeichnungen von Christian Thanhäuser
Matthes & Seitz, Berlin
349 Seiten, 36,90 Euro.