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Zum Tod von Jean Jacques Sempé
Mit feinem Strich gegen die Zumutungen des Lebens

Seine Zeichnungen, allen voran die vom "Kleinen Nick", haben Jean Jacques Sempé berühmt gemacht. Die Glückversprechen der modernen Gesellschaft blieben ihm stets suspekt. Nun ist der menschenfreundliche Karikaturist kurz vor seinem 90. Geburtstag verstorben. Eine Würdigung.

Von Cornelius Wüllenkemper | 12.08.2022
Der französische Zeichner Jean-Jacques Sempé 2005 während einer Autogrammstunde und eine seiner Illustrationen aus dem 2012 im Schweizer Diogenes Verlag erschienen Buch "Der kleine Nick".
Der französische Zeichner Jean-Jacques Sempé ist wenige Tage vor seinem 90. Geburtstag gestorben. Jean-Jacques Sempé 2005 während einer Autogrammstunde und eine seiner Illustrationen aus dem 2012 im Schweizer Diogenes Verlag erschienen Buch "Der kleine Nick". (Foto: picture-alliance/ dpa / Maxppp Thibault Camus, Zeichnung: picture alliance / dpa | Diogenes Verlag: IMAV éditions / Goscinny - Sempé)
„Ich bin ein Choleriker, was ich mir im Übrigen oft genug selbst vorwerfe. Wenn ich mich ans Zeichnen mache, muss ich meinen Ärger beiseite schieben, er muss einfach verschwinden.“
Bekannte Jean-Jacques Sempé in einem seiner seltenen Interviews 2005 in eiem Pariser Café. So wie seine Zeichnungen war auch ihr Erschaffer liebenswürdig und unaffektiert, von trügerischer Einfachheit und südfranzösischer Herbheit.
„Uff, also, ich habe keinen Schimmer, was das Glück in der modernen Gesellschaft sein sollte. Kennen Sie etwa viele glückliche Menschen? Ich kenne keine. Ich kenne enthusiastische Menschen, oder lustige. Aber glückliche? Ich weiß nicht, was das bedeuten soll. Was bedeutet es? Ich weiß es nicht.“
....konterte Sempé 1968 auf die vorsichtige Frage einer Journalistin im französischen Radio. Kurz zuvor hatte er seinen ersten eigenen Bildband „Nichts ist einfach“ veröffentlicht. Ein ebenso subtiler wie bitterer Abgesang auf die vermeintlichen Segnungen der modernen Gesellschaft. Omnipräsent: der Mensch, der einsam und verloren in der Masse untergeht. Ein Psychiater, der seinen Patienten beruhigt, er werde schon dafür sorgen, dass er „ein normaler Mensch werde, ganz wie alle anderen“. Ein romantisches Paar auf der Parkbank, das seine Liebe an der Größe materieller Anschaffungen misst. Endlose Verkehrstaus und riesige Werbetafeln mit plump anzüglichen Motiven, an denen sich Passanten mit hängenden Köpfen vorbeischieben. Sempé kratzte mit untrüglichem Gespür und genialer zeichnerischer Treffsicherheit am schillernden Lack der modernen Glücksversprechen.

Gegen die Uniformität der Masse

„Ob ich Ängste habe? Natürlich! Ich glaube, die Frage erübrigt sich, wenn Sie sich meine Zeichnungen anschauen. Auch auf das Risiko hin, nicht sehr originell zu wirken: Am meisten ängstigt mich die furchterregende allgemeine Apathie.“
Nichts war Sempé verhasster als die Uniformität der Masse. 1932 in Pessac bei Bordeaux geboren, hatte er sich von Kindheit an durchschlagen müssen und war dabei meist auf sich gestellt. Als uneheliches Kind im katholischen Milieu lebte er mit seiner cholerischen Mutter und dem Adoptivvater „Monsieur Sempé“ in erbärmlichen Verhältnissen. Lautstarke Prügeleien zwischen den Eltern prägten seine Kindheit. Besuche von Freunden zuhause waren nicht möglich, Jean-Jacques Sempé wuchs als Solitär auf. In der Schule gab er derweil den aufmüpfigen Rabauken und Klassenclown und wurde wegen Disziplinlosigkeit aus dem Unterricht entlassen, bevor er die Schulbank mit 14 Jahren dann endgültig verließ, um Geld zu verdienen.
„Zum Zeichnen bin ich eigentlich durch eine Notwendigkeit oder vielmehr durch Zufall gekommen. Ich habe angefangen zu zeichnen, weil ich keine andere Arbeit gefunden habe. Zunächst habe ich gezeichnet wie viele Andere auch. Als Junge hatte ich zwei Obsessionen: Ich wollte Jazzmusiker werden oder Fußballspieler. Weil ich von Musik nichts verstehe und sehr schlecht Fußball spiele, habe ich mich darauf verlegt, vor allem Jazzorchester und Fußballer zu zeichnen. Ich habe das gezeichnet, was ich nicht realisieren konnte.“

Im Armee-Knast wegen Verträumtheit

Um der familiären Misere frühestmöglich zu entfliehen, fälschte Sempé kurzerhand sein Geburtsdatum und meldete sich in Paris zur Armee.
„Als ich nach Paris ging, habe ich mich zur Armee gemeldet, um ein Dach über dem Kopf und etwas zu Essen zu haben, wenig, aber immerhin. Damals war das für mich die einzige Möglichkeit. Es war wirklich furchtbar. [...] Wegen meiner Verträumtheit bin ich mehrmals im Armee-Knast gelandet. Aber dennoch: In Paris zu sein, war für mich das Größte.“ 
Mit seiner Zeichenmappe in der Hand klapperte der Südfranzose mit starkem Akzent die Pariser Redaktionen ab, bis er zunächst für Satire-Magazine und später auch für das Gesellschafts-Magazin „Paris-Match“ zu zeichnen begann. Im belgischen „Le Moustique“ erschienen Anfang der 1950er Jahre Sempés erste Zeichnungen eines kleinen Schuljungen namens Nicolas.

Der "Kleine Nick", eine idyllische Kinderwelt

Gemeinsam mit dem Texter René Goscinny entstanden später zahlreiche Einzelbände vom „Petit Nicolas“ und seinen Freunden: Der gefräßige Otto, der strebsame Adalbert, der wohlstandsgeschädigte Georg, die schöne Marie-Hedwig, die Fußballerin Luischen und andere äußerst liebenswerte kleine Charaktere, die mit kindlicher Naivität die Logik der Erwachsenenwelt in Trümmer legten und ihre Eltern und Lehrer abwechselnd in Verzückung und in Rage versetzen. Eine idyllische Kinderwelt ohne Gesellschaft, Elend oder Politik.
„'Der kleine Nick' ist ein Buch für Kinder, die Eltern haben, und für Eltern, die Kinder haben. Wir wollten weder ein Kinderbuch machen, noch ein Buch für Erwachsene, es geht um keine bestimmte Altersgruppe. An meine Schulzeit habe ich eine ziemlich positive Erinnerung, ich hatte viel Spaß und habe einigen Radau gemacht. Deswegen zeichne ich gerne Kinder.“
Beteuerte Jean-Jacques Sempé 1961 und tauchte damit seine bewegte Vergangenheit in ein mildes Licht. Mit dem Erfolg des Kleinen Nick erlangte Sempé bald Prominenz nicht nur im Milieu der Humoristen. Sein feiner, leichter Strich, den er ausschließlich mit Tusche und der legendären Atome 423 Feder auf großformatiges Papier brachte, wurde berühmt. Nicht nur die Tageszeitung „Le Figaro“ und das Nachrichtenmagazin „Le Nouvel Observateur“ druckten seine Zeichnungen. Sempé brachte rund vierzig Titelbilder für den renommierten „New Yorker“ zu Papier, dazu kam fast jährlich ein eigener Band mit Humoresken von der Bühne des modernen Alltags. In dieser Zeit entstand auch die Persiflage über die Langeweile der Wohlhabenden im Nobel- Ferien-Ort Saint-Tropez an der Côte d’Azur.
„Es sind Zeichnungen in Form einer Reportage über die Klischees, die über Saint-Tropez im Umlauf sind. [...] Dabei werden sie sich, wenn sie kein Geld haben, oder schön oder berühmt sind, dort zu Tode langweilen. Denn das Leben dort funktioniert nach bestimmten Kriterien, genau wie im Rest unserer Gesellschaft.“

Nostalgie nach dem alten Frankreich

Sempés Werk durchzieht ganz unverkennbar eine Melancholie der Verlorenheit, eine Nostalgie auch nach der guten alten Zeit, vor „dem Massenkonsum und der Amerikanisierung“, wie er es nannte. La vieille France – das alte Frankreich - war bei ihm auch im 21. Jahrhundert noch lebendig, etwa im Band „Un peu de la France – Ein bisschen aus Frankreich“ zwischen ländlicher Idylle und putzigen Wimmelszenen aus der Stadt, wobei sich hier und da immerhin erste Mobiltelefone in seine Zeichnungen und Aquarelle einschlichen.
„Citroëns Ente habe ich geliebt! Und auch die früheren Polizei-Uniformen fand ich besser als die heute. Heute weiß man nicht, ob die gerade vom Joggen kommen, oder ob sie überhaupt Polizisten sind. Ich mochte die Zeit lieber, als sie noch eine richtige Mütze hatten und einen Schlagstock!“
Sagte Jean-Jacques Sempé noch 2012, in einem seiner letzten Interviews. Nach einem Ski-Unfall und einem mehrmonatigen Koma hatte er seine motorischen und geistigen Fähigkeiten neu schulen müssen, arbeitete aber dessen ungeachtet jeden Tag an neuen Ideen und Zeichnungen, weitgehend abgeschottet von der Außenwelt. Zuletzt verkaufte er seine Werke vor allem an Sammler, vermutlich auch, weil es ihn, der so gerne eine Kunsthochschule besucht hätte, als Künstler adelte. Bei einem der seltenen Besuche in seinem Atelier hoch über Paris, befragt nach seinem Lebensmotto, antwortete Jean-Jacques Sempé lakonisch:
„Mein Leben als Buchtitel? Ich würde sagen, `Nichts ist einfach‘ “