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Jean-Philippe Toussaints "Nackt"
Ein modernes Paar und das Geheimnis dahinter

2002 erschien der erste Band von Jean-Philippe Toussaint Romanserie. Darin wird über das Leben der jungen Modedesignerin und Künstlerin Marie und ihrem Lebenspartner berichtet. Nun ist mit "Nackt" der letzte Teil des Zyklus' auf Deutsch erschienen. Der belgische Autor erschafft in seinen Büchern eine Welt zwischen äußeren Erscheinungen und dem Geheimnis dahinter.

Von Cornelius Wüllenkemper | 11.02.2015
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    Der belgische Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint (AFP / JEAN-PIERRE MULLER)
    "Nackt und in an ihm heruntertropfenden Honig gebadet, schritt das Mannequin lächelnd und auf hohen Absätzen, die Hüften im Takt der Musik rhythmisch bewegend über den Laufsteg, gefolgt von einem Bienenschwarm, der, vom Honig angezogen, ihm in der Luft ein summendes Geleit gab eine langgezogene Wolke aus dröhnenden Insekten, die dem Schaulauf des Models folgte und, mit ihm am Ende des Laufstegs angekommen, eine plötzliche und wirbelnde Kehrtwende machte, wie die Projektion eines zerzausten, sich schlängelnden lebendigen Schals von durcheinander wimmelnden Hautflüglern, die es hinter sich herzog noch in dem Augenblick, als es den Laufsteg wieder verließ. So zumindest war es geplant gewesen."
    Marie Madeleine Marguerite de Montalte, Jet-Set Weltbürgerin, gefeierte Modedesignerin und bildende Künstlerin, wagt mit ihrem Kleid aus Honig den Versuch der perfekten Kreation zwischen Mode und Kunst. Der Versuch scheitert, das Mannequin stolpert und wird hinter dem gefallenen Vorhang attackiert von einem Heer aus Bienen. Auf der Bühne freilich wird der schöne Schein gewahrt, als gehöre der Unfall mit zur Inszenierung. Und schon sind wir mittendrin in der Welt, die Jean-Philippe Toussaint in seinen Büchern erschafft, im Graben zwischen der äußeren Erscheinung und dem Geheimnis dahinter.
    "Ich sehe die Aufgabe eines Schriftstellers darin, einerseits die Welt in ihrer Äußerlichkeit wiederzugeben, und anderseits auch die Geheimnisse dieser Welt darzustellen. Wenn wir einem Menschen begegnen, können wir ihn zwar wahrnehmen. Seine Geheimnisse, seine Gedanken oder seine Lebensgeschichte kennen wir aber nicht. Jeder Mensch trägt so etwas in sich wie ein Geheimnis. Mir liegt nicht daran, dieses Geheimnis zu lüften, sondern aufzuzeigen, dass es dieses Geheimnis gibt."
    Die Welt in ihrer Äußerlichkeit beschreiben, die Dimension der Dinge kühl kartographieren, und allein dem Leser die Interpretation überlassen: Das stand vor einigen Jahrzehnten auch auf dem Programm der Autoren des nouveau roman. Jean-Philippe Toussaint wurde von deren Doyen Alain Robbe-Grillet Anfang der 1980er-Jahre entdeckt und zum Verlag Les Editions de Minuit vermittelt, der bis heute Toussaints Bücher veröffentlicht. Von der akademischen Strenge des nouveau roman hat Toussaint sich seit dem immer mehr entfernt. Im Gegensatz zu den Formalisten habe er nichts dagegen, wenn sich seine Leser amüsieren, so Toussaint.
    Eine moderne Beziehung
    In der Roman-Tetralogie über Marie findet sich denn auch Komik, Erotik, Dramatik, Absurdes und Melancholisches. Marie und ihr Lebenspartner, der namenlose Erzähler, sind ein denkbar modernes Paar. Sie präsentiert ihre Mode- und Kunstkreationen in Shanghai, Paris, oder Tokyo, er begleitet sie, bleibt im Hintergrund, erkundet Städte und Kulturen oder langweilt sich im Hotel. Bereits in "Sich lieben", dem ersten Band der Serie, beschließen die beiden, sich zu trennen. Auf die Trennung folgt die Versöhnung, bis zur nächsten Trennung. Eine moderne Beziehung insofern, als Marie und ihr namenloser Partner ihre Unentschlossenheit, das Wechselspiel von Leidenschaft und Langeweile offen ausleben.
    "Mit meiner Serie über Marie erzähle ich eine moderne Liebesgeschichte. Ich zeichne ein Bild unserer Epoche, von der Rolle des Individuums in der modernen Welt. Und zugleich geht es auf einer tieferen Ebene um das Individuum im Sinne Blaise Pascals. Nicht umsonst trägt der letzte Band den Titel 'Nackt' - der nackte Mensch angesichts des Universums. Die soziale oder politische Aktualität spielt für mich keine Rolle. Ich bewege mich in einer anderen Dimension des Lebens, die aber ebenso sehr Teil des Lebens ist."
    "Nackt", der letzte Teil der Serie über Marie, beginnt mit einer erneuten Trennung des Paares. Nach dem letzten gemeinsamen Urlaub steht der Erzähler am Fenster seiner Pariser Wohnung und sinniert über seine eigenen Empfindungen.
    "Ich wagte nicht, es mir offen einzugestehen, aber was ich hier am Fenster stehend von jetzt an in Wahrheit erwartete, das war ein Anruf von Marie. Ich hoffte sogar, dass ihr Anruf kommen würde, noch bevor ich meinen Platz am Fenster verlassen, bevor ich Gelegenheit gefunden hätte, hier in diesem Appartement was auch immer zu machen, Post zu öffnen oder meine Tasche auszupacken, um ihr dann beim Abnehmen des Hörers mit gespielter Zurückhaltung, vielleicht mit einem leichten Unterton von Triumph, sagen zu können: 'Schon?!', und diese unendlich lange halbe Stunde, die ich am Fenster vergeblich auf den Anruf von Marie wartend verbrachte, war wie ein Kondensat der zwei Monate, dich ich von da an mit dem Warten auf ein Zeichen von ihr verbringen sollte."
    "Ich skizziere meine Figuren nur"
    Wie immer wähnt sich der Leser mikroskopisch nah an Toussaints Welt und seinen Figuren. Doch je näher wir der Oberfläche kommen, um so mehr scheint der Blick auf das Geschehen zu verschwimmen. Mit seiner tastenden, neutralen Sprache präsentiert uns Toussaint Lebenswelten wie wissenschaftliche Phänomene, deren Bedeutung wir selbst entschlüsseln müssen.
    "Einerseits zoome ich ganz nah heran. Andererseits verschweige ich viele Details. So kennen wir weder Maries Augenfarbe noch ihre Haarfarbe. Ich skizziere meine Figuren nur. Etwa so, wie Henri Matisse gemalt hat: In seinen Bildern sieht man Bewegungen, ein Gesicht ist zu erkennen, aber das meiste muss sich der Betrachter selbst vorstellen. Auch ich beschreibe Gesten und Bewegungen meiner Figuren, aber ich gebe keine Details, ich lasse viel Raum. Der Leser muss Marie selbst konstruieren, er muss sie sich vorstellen."
    Auch im letzten Band des Romanzyklus' erfahren wir von der Hauptfigur Marie nur soviel, dass sie die "Fähigkeit besitzt, sich auf das Innigste mit der Welt eins zu fühlen", dass sie "wie nackt auf der Oberfläche der Welt entlang zu spazieren" scheint und zugleich "eine Frau ihrer Zeit" ist, "aktiv gestresst und großstädtisch." Aber nicht nur Toussaints Figuren, die erscheinen wie Untersuchungsobjekte unter der Linse eines Forschers, sondern auch die Handlungsebene seiner Romane geben mehr Rätsel als Lösungen vor. Marie und ihr Lebenspartner reisen schließlich doch wieder vereint gemeinsam nach Elba zur Bestattung von Mauricio, dem Hüter des Anwesens von Maries verstorbenem Vater. Was hat es mit seinem Tod auf sich, und wer ist der ungebetene Gast, der sich im Obergeschoss des Hauses eingenistet hat? Und was hat das mit dem Brand in der Schokoladenfabrik zu tun, der die Insel mit einer süßlichen Dunstwolke überzieht? Organisierte Kriminalität, Zufall oder Einbildung, Toussaint lässt den Leser selbst urteilen.
    "Es interessiert mich nicht, wer was getan hat, wer die Schokoladenfabrik in Brand gesteckt hat, wer Schuld auf sich geladen hat. Aber ich benutze Elemente des Kriminalromans, um Spannung zu erzeugen. Die Dinge sollen geheimnisvoll bleiben. Wie bei einem Eisberg: Wir sehen nur die Spitze, also das, was ausdrücklich in meinem Buch steht. Und dann gibt es einen großen Teil, der sich dahinter verbirgt. Diesen Teil der Geschichte habe ich zwar auch erschaffen, er ist aber nicht sofort sichtbar. Der Leser muss sich diesen Teil der Realität selbst erarbeiten, er muss sich das Verständnis dieser Welt erst verdienen."
    Nicht die Handlung, und auch nicht die Sprache stehen für ihn im Mittelpunkt, betont Toussaint, sondern eine bestimmte Sicht auf die Welt. In seinem Roman "Nackt" liefert er erneut eine kriminalistische Recherche nach einer konsistenten Realität. In diesem Schwebezustand verharrt auch die widersprüchliche Beziehung zwischen Marie und ihrem Partner, mit der der Romazyklus bereits begann, auch wenn sich am Ende eine Schicksalsfügung abzuzeichnen scheint - vielleicht. Wer diesen äußerst fein ausgearbeiteten Text in der deutschen Übersetzung von Joachim Unseld liest, bekommt es dabei, mit einigen Unebenheiten zu tun. So hätte man die langen partizipialen Satzketten des französischen Originals im deutschen Lektorat lesbarer gestalten können. Wer darüber hinwegliest, entdeckt in Jean-Philippe Toussaint einen Virtuosen, der im literarischen Spiel mit Sprache, Zeitebenen und Perspektiven vorführt, wie zweifelhaft Wirklichkeit ist.
    Jean-Philippe Toussaint: "Nackt", Frankfurter Verlagsanstalt, 2014, 158 Seiten, aus dem Französischen von Joachim Unseld.