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Jenni Fagan
Flucht aus dem Panoptikum

Eine 15-Jährige auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens, in blutbefleckter Schuluniform, auf der Fahrt zu einer Erziehungsanstalt mit dem Namen Panoptikum. Das Mädchen Anais soll eine Polizistin ins Koma geschlagen haben. Sie erinnert sich nicht. So beginnt der Debütroman der 36-jährigen Schottin Jenni Fagan, die ihrer jugendlichen Protagonistin eine Stimme gibt und uns mit Wucht in ihre Welt zieht.

Von Ute Wegmann | 26.04.2014
    Häftlinge und Justizvollzugsbeamte stehen am 23.01.2014 in Berlin im Mittelbau der Justizvollzugsanstalt Moabit.
    Häftlinge und Justizvollzugsbeamte im Mittelbau der Berliner Justizvollzugsanstalt Moabit (picture alliance / dpa / Marc Tirl)
    "Getönte Scheiben, Vanille-Lufterfrischer. Die Handschellen schmerzen an meinen Gelenken, sind aber nicht eng genug, um Abdrücke zu hinterlassen - dafür sind sie viel zu clever. Der Bulle starrt mich durch den Rückspiegel an."
    Anais Liste von kleineren und mittleren Vergehen ist groß, - Diebstahl und Drogenbesitz, Widerstand gegen die Staatsgewalt, die Polizei hat sie auf dem Kicker, man will sie wegsperren. Von der geschlossenen Abteilung einer Erziehungsanstalt aber führt kaum ein Weg zurück in die Gesellschaft. Jenni Fagan über die Frage, die ihren Roman durchzieht:
    "Ist es möglich, Autonomie zu erlangen, aus einem System auszubrechen, wenn die Gesellschaft dir ständig sagt, wer oder was du bist. Ist es dennoch möglich, dich selber zu finden und zu erkennen, wer du eigentlich sein möchtest? Und genau das versucht Anais, auch wenn es ihr gerade nicht zu gelingen scheint, weil sich vieles gegen sie wendet."
    Sich selber und einen Platz in der Gesellschaft zu finden, auch wenn man mit widrigen Umständen zu kämpfen hat - das ist das Thema des Romans.
    "Ich bin so angeödet von diesen ganzen Heimen"
    Aufgewachsen in Kinderheimen und Pflegefamilien lebte Anais zuletzt bei einer Prostituierten. Seit ihrer Ermordung, das Mädchen fand sie tot in der Badewanne, fühlt sich Anais verlorener denn je.
    "Am liebsten wäre ich heute schon tot. Ich bin so angeödet von diesen ganzen Heimen, Tischen, Fenstern, dem Scheiß-Essen und billigem Deo. Immer derselbe Mist, nur der Ort ändert sich. [...] Ich will in einem Hotel in einer Seitenstraße von Paris leben - ich gehöre hier einfach nicht hin."
    Sie weiß, dass es auch für sie andere Möglichkeiten gäbe, ein anderes Leben, aber seit Jahren bewegt sie sich in einem System, in dem ihr Sozialarbeiter ein Identitätsproblem unterstellen.
    "Guter Scherz. Fünfzig Umzüge, drei verschiedene Namen, zur Welt gebracht in einer Irrenanstalt von einer Verrückten, die danach nie wieder gesehen wurde. Identitätsproblem? Ich habe kein Identitätsproblem - ich habe nämlich gar keine Identität ..."
    Anais weiß nichts über ihre Familie. Ihre Mutter hat sie nie kennengelernt, der Vater ist unbekannt. Es gibt keine Fotos, keine Briefe, keine Verwandten.
    Das Mädchen, klug, loyal, tiefsinnig, rettet sich in ihre Fantasie, in ein Geburtstagsspiel und stellt sich immer wieder vor, in Paris geboren zu sein, Französisch zu sprechen, schlüpft in die Rolle eine Künstlerin mit Atelier und kleinem Hund. All das Ausdruck ihres Wunsches nach Freiheit.
    "Das Panoptikum ist eine Konstruktion, ein Abbild der Copy-Paste-Kultur"
    Ihre Wirklichkeit aber ist das Panoptikum, so auch der englische Titel des Romans, ein Ort der totalen Überwachung, nach einem Modell des englischen Philosophen und Sozialreformers Jeremy Bentham, ein Rundbau mit einem zentralen Wachturm, von dem aus alle Zimmer eingesehen werden können. Der Architektur liegt die Idee zugrunde, dass sie auch ohne Wärter in ihrer Bedrohlichkeit funktioniert, und so empfindet es auch Anais:
    "[...] und es ist vollkommen klar, dass da oben gar niemand sein muss; der Wachturm sieht alles - und zwar ganz von allein."
    Jenni Fagan zu der Idee des Panoptikums:
    "Ich habe diesen Namen gewählt, weil ich glaube, dass dieses Erziehungssystem eine hochpotenzierte Version des Panoptikums ist, in dem wir leben. Ich glaube, das Panoptikum ist eine Konstruktion, ein Abbild der Copy-Paste-Kultur, der Social Media, und es steht für die Art und Weise, wie Menschen sich in dieser Gesellschaft ständig beobachten, was wir früher nicht gemacht haben. Dieses Erziehungssystem treibt das auf die Spitze, weil die Kinder die ganze Zeit von Erwachsenen kontrolliert werden, die sie nicht kennen und die sie vielleicht nie wiedersehen. Das ist eine verstörende Erfahrung für Kinder. Man kennt ja die Auswirkungen auf Menschen, die in einem solch unnatürlichen System aufwachsen, wo sie nie berührt oder mal in den Arm genommen werden."
    Trotz des Überwachungssystems spielen Drogen eine große Rolle im Leben der Jugendlichen. Trips, Pillen, Joints. Fluchtmomente - Ausbruchsversuche für Stunden, für Minuten. Die Autorin schildert auf eindrückliche Weise Anais Wahrnehmungen unter dem Einfluss der Drogen.
    "Der Frühstückstisch ist seltsam. Die Teekanne hat ihren Henkel in die Hüfte gestemmt und beginnt zu kippen, die Karos auf der Tischdecke rutschen hin und her, von links nach rechts, links, links, rechts. Die Zuckerdose ist blau mit gelben Hühnern drauf, der Zucker darin türmt sich hoch auf; jedes einzelne Körnchen sticht heraus. [...] Die Zuckerkörner schreien schrill Wiiii. [...] Ich drücke meine dritte Zigarette aus und lege meinen Teller verkehrt herum auf die Zuckerdose. Man kann nicht vorsichtig genug sein."
    Gegenstände werden lebendig, Anais dagegen schrumpft oder schwebt; meint, sie könne die Gedanken anderer Menschen hören. Plastische Bilder, verstörende Szenen. "Als Kind gefielen mir Bücher, die die Wirklichkeit überschritten: 'Alice im Wunderland' oder die Bücher von Maurice Sendak", sagt Jenni Fagan. "Später mochte ich die Filme von David Lynch und Bücher, die sich mit einem magischen Realismus beschäftigen. Außerdem mag ich den Surrealismus, vor allem auch surrealistische Maler. Für mich ist es ganz natürlich, so zu schreiben, weil ich meine Fantasie ausleben kann, mit Worten malen kann."
    Anais lehnt sich vehement gegen Ungerechtigkeit jeder Art auf und ist voller Abwehr gegen Erwachsene, kämpferisch und mit einem starken Freiheitsdrang, auf der Suche nach Geborgenheit und in all der inneren Zerrissenheit erfüllt von Einsamkeit und Traurigkeit. Sie weiß auch, dass Bildung Macht bedeutet und spürt doch, dass ihr Wissen über Kunst und ihre Intelligenz ihr nicht weiterhelfen. Obwohl sie Gewalt ablehnt, gerät sie in Situationen, in denen sie sich oder einen Freund verteidigen muss, um nicht selber Opfer zu werden. Sie sieht sich als das Mädchen mit dem Haifischherzen. Jenni Fagan beschreibt Anais so: "Sie ist ein 15-jähriges Mädchen, das weiß, wie schwer es ist, dort zu überleben, wo sie ist. Sie braucht ein Haifischherz, um eine Chance zu sehen, aus dem Erziehungssystem herauszukommen. Sie muss ein Haifischherz haben."
    Kein Opfer sein
    Ob sie in der Erziehungsanstalt im Freigang bleibt, ob ihre Schuld am Zustand der Polizistin nachgewiesen wird und man sie einsperrt, dem Teufelskreis des Systems scheint sie kaum entkommen zu können, obwohl es einen Sozialarbeiter gibt, der ihre Qualitäten erkennt und ihr Mut macht.
    Aber Anais wäre nicht Anais: Sie verweigert die Opferrolle und flieht aus dem Panoptikum, bevor man sie in eine geschlossene Abteilung bringen kann. Ihr Ziel: Paris. Ein offener Schluss.
    Jenni Fagan hat eine berührende Antiheldin geschaffen, eine Erzählerin, der man durch ihre Träume, Aggressionen und ihre Gedankenspiele sehr nah kommt. Eine starke Jugendliche, der man wünscht, dass sie keine "Lebenslängliche" in einem kontrollierten System wird. Anais erinnert sich an ein Gespräch mit einer Sozialarbeiterin:
    "'Wir glauben, dass du eine Borderline-Persönlichkeit hast, Anais.'
    'Besser als keine, oder?'
    Falsch. Ganz offensichtlich - besser keine Persönlichkeit ist die korrekte Antwort. Borderline ist nicht so wirklich erwünscht."
    Schlagfertigkeit und Witz - auch das Wesenszüge der Protagonistin - bereichern die Geschichte neben den zuweilen harten Dialogen und ungeschönten Szenen. Jenni Fagan sagt über Anais:
    "Ich glaube, sie hat eher mich gefunden, als ich sie. Ich habe den Roman zuerst in der dritten Person geschrieben, 160.000 Wörter in reinem Englisch, aber es funktionierte nicht. Ich stellte fest, dass das Wichtigste Anais Stimme war, aber die hörte man nicht heraus. Dann habe ich alles umgewandelt, in die erste Person und ins Schottische und da wurde sie lebendig. So musste ich mich als Autorin immer mehr zurücknehmen, der Figur ihren Raum geben und dem Entwicklungsprozess vertrauen."
    Im Original in Schottisch hat Noemi von Alemann in der deutschen Übersetzung einen sehr überzeugenden Ton gefunden.
    Jenni Fagan: "Das Mädchen mit dem Haifischherz"
    Kunstmann Verlag 2014