Donnerstag, 28. März 2024

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Jenny Erpenbeck: "Kairos"
Abgesang auf die DDR

Die englische Tageszeitung "Guardian" nannte sie „eine der wichtigsten Schriftstellerinnen unserer Zeit“. In ihrem neuen Roman „Kairos“ schreibt Jenny Erpenbeck über eine große Liebe, deren Ende mit dem Ende der DDR zusammenfällt.

Von Maike Albath | 27.08.2021
Ein Portrait der Autorin Jenny Erpenbeck und das Buchcover ihres Roman "Kairos"
Jenny Erpenbeck wurde in der DDR geboren und ist heute eine der erfolgreichsten deutschen Schriftstellerinnen (Buchcover Penguin Verlag, Autorenportrait (c) Katharina Behling)
Eine Frau sitzt zwischen verstaubten Kartons und sichtet die Hinterlassenschaften einer längst vergangenen Liebe. Es gibt Briefe, Restaurantrechnungen, Fahrkarten, Kalender, Bücher, Notizhefte. Ein kleines Privatarchiv aus der Zeit zwischen 1986 und 1992. Der Akt, sich diesen Erinnerungsstücken auszusetzen, bildet die Rahmenhandlung von Jenny Erpenbecks neuem Roman "Kairos". Im Zentrum steht die Beziehung zwischen der 19-jährigen Katharina, die eine Ausbildung zur Schriftsetzerin macht, und Hans, einem charismatischen Schriftsteller, Anfang 50 und verheiratet. Dabei entwirft die Autorin auch eine Topographie Ostberlins.
Jenny Erpenbeck: "Die Szenerie hat sich gewandelt, aber man findet immer noch Relikte. Und als Kind wollte ich immer Archäologin werden. Und in gewisser Weise ist es doch so, wenn man schreibt, dass man auch Archäologie betreibt, dass man die verschiedenen Schichten freilegt, die an Erinnerungen da sind, Geschichten, die einen mit Orten verbinden, mit anderen Menschen verbinden, und im Laufe meines Lebens ist es mir so gegangen, dass ich verschiedene Blicke auf Menschen hatte, auf Orte, also, die Zeit ist keine Einbahnstraße."
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Mentor und Mädchen

Jenny Erpenbeck wählt für ihren Roman, der im Mittelpunkt unsere Sendung Studio LCB steht, eine klassische Konstellation: ein älterer Mann wird zum Mentor einer jungen Frau, die ihn durch ihre Unbefangenheit bestrickt. Mit dem Literaturkritiker Michael Hametner und Thomas Irmer, Heiner-Müller-Forscher, Dramaturg und Kenner des Theaters der DDR, diskutiert die Autorin über den Charakter dieser Beziehung.
Michael Hametner: "Mir ging es so, dass ich die Intensität gespürt habe, mit der diese Geschichte beginnt, es wird eine Amour fou, aber sie baut sich ganz langsam auf, das finde ich eine musikalische Komposition."
Thomas Irmer: "Warum diese beiden Namen, die sind generationsspezifisch. Katharina ist ein Name, der an Katharsis erinnert, das hat in der Wurzel auch etwas damit zu tun, während Hans die verkürzte Form von Johannes ist und natürlich andere Assoziationen möglich sind, es gibt diese Geschichte vom Lieblingsjünger von Jesus, der Johannes, der auch ein Theologe ist, der erste Theologe der Kirche, und so etwas wie ein Vorbild sein sollte."
Hans vermittelt Katharina den Zugang zu literarischen Werken; ihr Verhältnis zu Alltagswelt ist ein ästhetisches. Das bezieht auch ihre Liebe mit ein. Von Anfang an herrscht ein hoher Ton, die beiden zelebrieren ihre Beziehung wie einen heiligen Ritus. Bis Katharina nach einer harschen Zurückweisung eines Tages abtrünnig wird.
Jenny Erpenbeck: "In dem Buch wird dann zunehmend wichtig die Instrumentalisierung von Schuld. Ich wollte eine Beziehungsgeschichte schreiben, wo man sieht, dass diese Struktur und Zuweisung von Schuld eigentlich auch im kleinsten Kreis von zwei Menschen zu Katastrophen führen kann."
Angesiedelt ist der Roman in einem bestimmten Kulturmilieu der DDR. Von Heiner Müller über Christa Wolf bis zu dem Dramaturgen Alexander Weigel tauchen etliche reale Namen auf, und immer wieder spekuliert man über die tatsächlichen Personen hinter den Figuren.

Der mythische Raum der Verzückung

Michael Hametner: "Ein Schlüsselroman ist es in keiner Weise. Ich denke, so ein Name taucht dann auch auf, um die Authentizität des Stoffes zu verbürgen."
Und schließlich setzt sich Jenny Erpenbeck auch mit der Zeitgeschichte auseinander, die immer stärker ins Spiel kommt, je weiter sich das Paar aus dem mythischen Raum der ersten Verzückung entfernt. Die Autorin treibt die Bewertung der Wende um.
Jenny Erpenbeck: "Zum Beispiel diese Beschreibung des 7. Oktober 1989, kurz vor Mauerfall, da gibt’s so eine Szene hier auch in dem Buch, die spielt zwischen einer Opernaufführung in der Staatsoper, dann geht die Hauptfigur raus, sieht eine Tribüne, an der noch gehämmert wird für die Feierlichkeiten zum Geburtstag der Republik, das ist auch nicht das richtige, und dann gerät sie in die Hedwigskathedrale und erlebt da einen oppositionelle Gottesdienst mit und da fühlt sie sich auch nicht richtig, und diese merkwürdige Verlorenheit in diesem Dreieck aus Kunst, Politik und Kirche, das ist so eine Sache gewesen, die hatte ich vollkommen vergessen."

Die existentielle Verlorenheit einer ganzen Generation

Michael Hametner: "Es ist die Zeit, die wir in der Hand haben und die uns allmählich aus der Hand entgleitet, die Lebenszeit, dann kommt der Vorgang der Trauer mit ins Spiel, aber uns hat die andere Zeit auch in der Hand und prägt uns."
Thomas Irmer: "Sie vergeht in dem Buch mal ganz langsam und dann ungeheuer beschleunigt, und wir sollten auch endlich auf den Titel zu sprechen kommen, "Kairos", das bedeutet ja im Griechischen der richtige Moment, der richtige Zeitpunkt, aber es ist ein Zeitpunkt, es ist ein Moment gegenüber einem Zeitraum, der einen viel größeren Verlauf hat, und da liegt auch das Theatrale."
Am Ende weiß Katharina nicht mehr, ob die Begegnung mit Hans ein günstiger Moment war, bei dem der griechische Gott seine Hände im Spiel hatte, oder vielleicht sogar das Gegenteil. Ihr Land ist inzwischen untergegangen. Jenny Erpenbeck erzählt in "Kairos" von der existentiellen Verlorenheit einer ganzen Generation.
Jenny Erpenbeck: "Kairos"
Penguin Verlag, München. 384 Seiten, 22 Euro.