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Jens Balzer: "Das entfesselte Jahrzehnt"
Apokalyptik und Erfindungsgeist

Deutscher Herbst, Öko-Kommunen, Männerselbstfindungsgruppen – die 70er-Jahre erscheinen im Rückblick oft als die melancholisch gefärbte Kehrseite der aufregenden und aufbruchsfreudigen 60er. Nun versucht sich der Journalist, Pophistoriker und Essayist Jens Balzer an einer Ehrenrettung des Jahrzehnts.

Von Ulrich Rüdenauer | 21.05.2019
Zu sehen ist Jens Balzer und das bunte Cover seines Buches "Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er."
Jens Balzer über ein vernachlässigtes Jahrzehnt (Autorenfoto: Sven Marquardt/ Cover: Rowohlt)
Die siebziger Jahre sind das Stiefjahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Nie standen sie so im Mittelpunkt wie die goldenen Zwanziger oder die wilden Sechziger. Sie konnten mit keinen allzu großen Katastrophen oder Kriegen aufwarten oder mit einem weltgeschichtlichen Ereignis wie dem Zusammenbruch des Ostblocks. An kulturkritischen Gesamtdarstellungen mangelt es. Einzelne Bereiche werden zwar gerne untersucht, aber die Siebziger insgesamt als ein größerer Forschungsgegenstand werden ausgeblendet. Gemeinhin gelten sie als eine Art Übergang – von der linken Utopie zum Neoliberalismus, von den Hippies zu den Yuppies.
Mit dieser Verkürzung aber wird man den Siebzigern nicht gerecht. Das zeigt der Popjournalist und Autor Jens Balzer in seinem neuen Buch "Das entfesselte Jahrzehnt", in dem er sich eingehend mit den kulturellen Phänomenen dieser Zeit auseinandersetzt und interessante Zusammenhänge aufspürt. Für Balzer beginnen die siebziger Jahre bereits 1969: mit dem Woodstock-Festival und der Mondlandung. Beides sind Höhe- und Wendepunkte. Einerseits kulminiert die Hippie-Bewegung in three days of love, peace and music. Aber schon kurze Zeit darauf zeigt sich die Kehrseite dieses Traums: Die Manson-Family, eine Hippie-Kommune, begeht bestialische Ritual-Morde; und das Altamont-Musikfestival gerät zu einem Fanal – ein junger Schwarzer wird erstochen, die Stimmung bei dieser als Fortsetzung von Woodstock geplanten Veranstaltung hat nichts mehr von Friede, Freude, Eierkuchen, sondern von einem Abgesang auf den Sommer der Liebe.
Auch die Mondlandung, jenes Ergebnis des Wettlaufs der beiden politischen Blöcke, weist zum einen in die Zukunft. Zum anderen zeigt sie aber zugleich die Grenzen des Menschen auf: welch technischer und finanzieller Aufwand alleine dafür betrieben werden musste, dass ein Mann auf dem nächsten Trabanten auf- und abhüpft, während auf dem Planeten Erde die Probleme einfach weitermachen. Ende der sechziger Jahre herrscht also eher Manic Depression und immer weniger naiver Neo-Romantizismus. Und doch oder gerade deshalb bringt das kommende Jahrzehnt neue kulturelle Spielformen und Selbstermächtigungen hervor, wie Jens Balzer erläutert:
"Das ist eigentlich so dieses Doppelereignis, daraus entsteht eine Vielzahl von kleinen, bescheideneren Utopien, die aber dann zusammenlaufen zu diesem Patchwork der Minderheiten und der Bürgerrechtsbewegung und der Emanzipationsbewegung und die die 70er-Jahre bestimmen, die ja dann letztlich viel wirkmächtiger sind als diese planetarischen Utopien, die man in den 60ern hatte."
Emanzipatorische Bewegungen
Die große Erzählung, so drückte es der Philosoph Jean-François Lyotard aus, ist an ein Ende gekommen. Ersetzt wird sie durch viele kleine Erzählungen. Es ist nicht verwunderlich, dass schon zu Beginn der siebziger Jahre die ersten zarten Pflänzchen der Umweltbewegung erblühen. Die politische Bewegung der sechziger Jahre, die patriarchal geprägt gewesen war, splittert sich nun auf in viele kleine Gruppierungen. Deren Themen hätten die linken Kader kurz zuvor noch als zu vernachlässigende Nebenwidersprüche verunglimpft: Die Frauenbewegung entsteht ebenso wie eine Männerbewegung, die sich für ein neues Männlichkeitsbild stark macht; es gibt emanzipatorische Bestrebungen in der Dritten Welt und auch in Europa, Schwulenproteste, Friedensgruppen. Die Anti-Atomkraft-Bewegung formiert sich ebenfalls in diesem Jahrzehnt.
"Diese Mischung aus Apokalyptik und Erfindungsgeist zieht sich in so einer ganz interessanten, wie ich auch finde bisher noch zu wenig beobachteten Dialektik durch die gesamten 70er."
Jens Balzers Studie "Das entfesselte Jahrzehnt", und das ist das Großartige an diesem Buch, begreift sich aber nicht vordergründig als politische Spurensuche, sondern möchte eine breite Kulturgeschichte liefern – ausgehend von Massenphänomenen und medialen Ereignissen, von Pop und Trivialgenres. Balzer strebt dabei keine Vollständigkeit an. Und ganz programmatisch kommen Themen, die die Feuilletons bestimmen und bestimmten, kaum vor. Der Name Peter Handke etwa fällt kein einziges Mal, obwohl er gewiss für das intellektuelle Selbstverständnis der Siebziger eine gewisse Bedeutung hat; die Neue Subjektivität in der Literatur oder der Neue Deutsche Film spielen keine Rolle, und auch die für die undogmatische Linke prägenden Theorieimporte aus Frankreich tauchen höchstens einmal in einer Randbemerkung auf.
"Zum einen, weil ich der Ansicht war, Bücher über Fassbinder gibt's schon genug. Und über Peter Stein auch. Da muss ich jetzt nicht noch eins schreiben. Und ich glaube tatsächlich, dass eine Serie wie Perry Rhodan oder ein Roman wie "Der Herr der Ringe" für die Bildung eines Massenbewusstseins und für die Bildung eines kulturellen Bewusstseins viel wichtiger ist als alles, was Heinrich Böll und Günter Grass in dieser Zeit geschrieben haben."
Kulturgeschichte aus der Vogelperspektive
Jens Balzer, Jahrgang 1969, schaut sich die Siebziger als popaffiner Historiker an – aus der Vogelperspektive. Und greift sich einzelne Themen heraus, die etwas über ihre Zeit aussagen, die ausstrahlen. Ob es Science-Fiction-Romane sind, die changierenden Geschlechterrollen in den Inszenierungen David Bowies oder die gewaltige Masse an so genannten Aufklärungsfilmen, die unter dem Deckmantel pädagogischer Informationspflicht schlüpfrige Männerfantasien ins Kino bringen. Man denke nur an den vielteiligen "Schulmädchen-Report":
"Wichtig war mir auch dieses stetige Widerspiel zwischen Emanzipation und Reaktion und Regress in den Blick zu bekommen, oder sagen wir mal, die sexuelle Befreiung, die sexuelle Emanzipation und gleichzeitig auch die Entfesselung des Patriarchats. Das ist ja kein Zufall, wird aber, soweit ich sehe, selten mal zusammen betrachtet, dass der Beginn der neuen Frauenbewegung in Westdeutschland in eins fällt mit der großen Sexwelle."
In fast allen Bereichen findet sich dieses Widerspiel von Emanzipation und Reaktion. David Bowie gibt Interviews, in denen er sich gegen den Zuzug von Migranten nach England wendet und Adolf Hitler verherrlicht. Eric Clapton fühlt sich in rassistischen Zusammenhängen nicht gerade unwohl. Und auch in der Punkmusik, die heute im Rückblick in ihren regressiven Tendenzen meist als emanzipatorischer Ausdruck gegen einen etablierten linksliberalen Mainstream gewertet wird, gibt es erhebliche Ambivalenzen. Dass in dieser Szene bereits rassistische, nazistische Motive angelegt sind, die eben nicht nur provokativen Charakter haben, sondern auf ein breites Echo rechnen können, weist Balzer eindrücklich nach.
"Es gab Mitte der 70er einen ganz starken konservativen Backlash in der britischen Gesellschaft, in der ja der Punk entstanden ist. Es gab ganz starke rassistische Demonstrationen. Das war keineswegs so, dass man sich in einer linken Blase bewegte, die man da mit so einem Hakenkreuz hätte schocken können, sondern es gab schon auch ein Heischen um Anerkennung bei einer wie auch immer als proletarisch verstandenen antibürgerlichen Jugend, ob die jetzt links oder rechts war, war dann erst mal gleich. Und das hat dann dazu geführt, dass sich aus dieser Ursuppe der ersten Sexpistols-Konzerte auch Bands wie Skrewdriver gegründet haben, die wesentlich für die Entwicklung des Nazirock in den späten 70er und frühen 80er Jahren gewesen sind und die dann zum Beispiel auch zu dem Blood-and-Honour-Netzwerk geführt haben, das bis zum Nationalsozialistischen Untergrund der letzten Jahre und dazugehörigen Mordserien reicht."
Der Ambivalenzen nicht genug. Der Okkultismus feiert in den Siebzigern fröhliche Urständ. Progressive und Heavy-Metal-Bands beziehen sich auf den Spiritisten Aleister Crowley. Andere tummeln sich im Kosmos von Tolkiens "Herr der Ringe", in dem auch nicht gerade die fortschrittlichsten Visionen des Zusammenlebens entworfen werden. Und Balzer stöbert noch andere Beziehungslinien auf, die man auf den ersten Blick nicht gerade vermuten würde.
"Ich wusste, dass ich über Charles Manson schreiben muss, als Abgesang auf die Hippie-Bewegung, und dass man natürlich auch über den Beginn des westdeutschen Terrorismus in Berlin, also Bewegung 2. Juni, schreiben muss. Aber dass die Kollegen von der Bewegung 2. Juni alle überzeugte Charles Manson-Fans waren, das war mir vorher nicht so klar. Es gab dann, das kann man in der Autobiografie von Bommie Baumann nachlesen, plötzlich auch so transatlantische Verbindungen, die, wenn man sie so ein bisschen weiterverfolgt, dann durchaus mehr Sinn ergaben, als ich es von vornherein geahnt hatte."
Verlust des Aufmüpfigen
In den Siebzigern werden zudem die Grundlagen der technologischen Revolution gelegt, in der wir gerade stecken und deren Auswirkungen ganz unabsehbar sind. Wenn sich die damaligen Tüftler und Hacker ans Schreiben neuer Computer-Programme und Visionen machen, hat das durchaus noch anarchistischen Charakter. Das Unangepasste, Aufmüpfige, Unzweckmäßige wird aber bald ad acta gelegt. Die mit den ersten Videospielen in den Achtzigern sozialisierte Programmierer-Generation hat ganz andere Interessen – und ist eher auf dem Kurs des sich durchsetzenden Neoliberalismus.
"Man sieht schon Ende der 70er, wie der Geist der libertären Kooperation beginnt ersetzt zu werden durch den Geist des Daddelns und der Zeitverschwendung und einer Art von Vernetzung, wo es halt nicht mehr darum geht, gemeinsam irgendwas zu machen, sondern gemeinsam Spiele zu spielen, also bereits vorgegebene Muster abzuarbeiten."
Und dieser Geist, erst einmal aus der Flasche gelassen, breitet sich dann ziemlich rasch in alle möglichen Lebensbereiche aus. Die Siebziger sind in dieser Hinsicht tatsächlich eine Zeit des Übergangs. Aber, wie Jens Balzer an vielen Beispielen und in einem eleganten feuilletonistischen Stil anschaulich macht, sind sie auch eine Zeit fantastischer Möglichkeiten und unbändiger Kreativität – ein entfesseltes Jahrzehnt. Vieles wird später wieder eingehegt. Oder ganz verspielt. Mit den Folgen haben wir nun zu kämpfen. Aber die Energie dieser Jahre wirkt bis heute inspirierend.
Jens Balzer: "Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er".
Rowohlt Berlin
432 Seiten, 26 Euro