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Jens Eisel: "Bevor es hell wird"
Zwei Brüder auf Talfahrt

Kantige Kerle gesucht – das scheint seit einiger Zeit das Motto der deutschen Literatur zu sein. Auch die Prosa von Jens Eisel ist bevölkert von einfachen Menschen aus der Arbeiterklasse. Denen aber hört und schaut er genau zu. In einer glasklaren Prosa, die jedes Klischee unterläuft. Das gilt auch für seinen neuen Roman "Bevor es hell wird".

Von Claudia Kramatschek | 12.05.2017
    Automechaniker in einer Werkstatt. (Symbolfoto)
    Automechaniker in einer Werkstatt. (Symbolfoto) (imago / Westend61)
    Wer kennt es nicht, das ikonische Bild von James Dean, der in dem Film "Rebellen" den aufmüpfigen Halbstarken markiert – und sich doch nur verzweifelt nach Liebe sehnt? Von zwei rebellischen Brüdern, die sich ebenfalls verzweifelt nach Glück und Geborgenheit sehnen, handelt auch Jens Eisels Roman "Bevor es hell wird". Eisel hat dem Roman deshalb ein Zitat aus "Rebellen" vorangestellt. Der Verweis auf den Film ist allerdings zugleich seiner Vorliebe für ein amerikanisches Erzählen geschuldet: Der Autor liebt knackige Stoffe – und eine knackige, betont schnörkellose Sprache. Und eben deshalb nimmt der Roman einen sofort gefangen. Schauplatz ist Hamburg. Alles beginnt 2004 mit einer Verhaftung: Alex, der jüngere der beiden Brüder und der Ich-Erzähler des Romans, wird soeben festgenommen und ins Gefängnis gebracht.
    "Draußen wird es gerade hell. Es sind kaum Autos auf den Straßen. Mein Blick gleitet über die Fassaden der Häuser, dann verschwimmt alles, und ich sehe meinen Bruder in einem dunklen Zimmer sitzen. Er trägt nur eine Unterhose, und das Zimmer steht voller Flaschen – an den Wänden ein paar Fotos."
    Ausweglosigkeit, Verlust und Einsamkeit
    Zwei Jahre später kommt Alex frei – er ist 27 Jahre alt und versucht wieder Fuß zu fassen. Seine erste Anlaufstelle ist eine Autowerkstatt: Einst hat sie dem Vater seines besten Freundes Norman gehört, inzwischen gehört sie Norman selbst. Für Alex wiederum – der bei Norman übergangsweise Unterschlupf und Arbeit findet – war diese Werkstatt schon als Jugendlicher ein besonderer Ort.
    "Während ich, über die Motorhaube gebeugt, mit dem Werkzeug hantierte, musste ich an die Anfangszeit in Hamburg denken. An all die Nachmittage, die ich mit Norman hier verbracht hatte. Auch wenn dieser Ort für andere Menschen nur eine schmutzige Halle war, war er für mich auch immer ein Schutzraum gewesen."
    Bevor es nämlich – ganz am Ende des Romans – in Alex’ Leben wirklich richtig hell wird, erzählt Jens Eisel von einer Talfahrt in Ausweglosigkeit, Verlust und Einsamkeit, aus der es nur für einen der beiden Brüder einen Ausweg geben wird. Der Roman blendet fortan hin und her, zwischen der Gegenwart, in der Alex auf den Spuren seines früheren Lebens durch die Stadt streift – und Alex’ Erinnerungen daran, wie alles angefangen hat in Hamburg, zehn Jahre zuvor:
    Damals ziehen Alex und sein Bruder Dennis gemeinsam mit der Mutter neu in die Stadt und erfahren zum ersten Mal so etwas wie ein Zuhause und ein kleines Glück. Die Mutter findet eine Arbeit, Alex in Norman einen echten Freund, Dennis eine Ausbildungsstelle als Koch. Doch das Glück währt nicht lang: Nach einer schweren Krankheit stirbt die Mutter; die beiden Jungen stehen alleine da. Es ist der Moment, in dem Alex begreift: Er, der Jüngere, muss fortan da sein für seinen älteren Bruder Dennis.
    Ein Auf und Ab bis zum letztlichen Drama
    "Er nahm ein Foto von uns in die Hand, und während er es anschaute, fing er leise an zu weinen. Ich ging zu ihm und umarmte ihn, aber sein Schluchzen wurde immer lauter. Ich drückte ihn fester, und nach einer Weile beruhigte er sich wieder."
    So wird es weitergehen: in einem Auf und Ab, das letztlich in einem veritablen Drama endet. Von einem Auslandsaufenthalt wird Dennis – der sich irgendwann als Berufssoldat verdingt – mit schweren seelischen Schäden zurückkehren. Nichts bringt ihn mehr in die Bahn, weder sein Bruder noch seine Freundin. Dennis entschließt sich zum Äußersten: Den zweiten Selbstmordversuch überlebt er zwar, allerdings körperlich schwerstversehrt.
    "Er wurde künstlich ernährt, und als ich eines Nachts nicht schlafen konnte, ging ich zu ihm ins Zimmer und setzte mich neben ihn. Er wurde mittlerweile direkt über die Luftröhre beatmet, und jedes Mal, wenn die Maschine Sauerstoff in seine Brust pumpte, wirkte sein Gesicht angespannt."
    Überzeugende Menschen aus Fleisch und Blut
    Alex wiederum macht sich Vorwürfe, dass er sich zu wenig um seinen Bruder gekümmert hat – und entschließt sich ebenfalls zum Äußersten: das Leiden seines Bruders zu beenden. Wenig später – wir sind im Jahr 2004 und in exakt jenem Moment, mit dem der Prolog des Romans einsetzt – wird er festgenommen.
    "Als eine Polizeistreife kam, um mich festzunehmen, ging ich mit der Wodkaflasche auf die Polizisten los. Ich traf einen von ihnen am Kopf, und als ich erneut zuschlug, zersplitterte die Flasche. Dann brach ich zusammen."
    Wer nun denkt, dass der Autor dick aufträgt oder auf die Tränendrüse drückt, liegt falsch. Denn erstaunlicherweise gerät nichts von all dem in die Nähe des Klischees oder der Gefühligkeit. Ohne Pathos, ohne falschen Ton folgt Jens Eisel seinen Figuren – die Männer herzerweichend weiche Kerle mit nur scheinbar rauer Schale; die Frauen mit beiden Beinen im Leben und ihren Mann stehend. Eisel zeigt sie überzeugend als Menschen aus Fleisch und Blut, legt ihr verletztes Innenleben offen – und das, ohne groß zu psychologisieren. Man fühlt und bangt mit seinen Figuren, ist für die Zeit der Lektüre mit ihnen auf du und du. Das klingt simpel – ist es aber nicht. Denn nichts ist so schwer wie schwerelose Kunst. Jens Eisel – das beweist "Bevor es hell wird" – beherrscht sie.
    Jens Eisel: "Bevor es hell wird", Roman, Piper Verlag 2017, 206 Seiten, 18 Euro