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Jeong Yu-jeong: „Der gute Sohn“
Wer hat dieses Blutbad angerichtet? Ich?

Yu-jins Mutter liegt tot in der Wohnung. Was ist geschehen? Nach und nach findet der 25-jährige Koreaner heraus, dass er selbst es war, der seine Mutter umgebracht hat. Doch warum? Eine spannende Spurensuche von „Koreas Stephen King“ Jeong Yu-jeong, in der der Ermittler zugleich der Täter ist.

Von Katharina Borchardt | 29.04.2019
Buchcover: Jeong Yu-jeong: „Der gute Sohn“
Jeong Yu-jeong wird auch "Koreas Stephen King" genannt (Buchcover und Foto: Unionsverlag)
Eines Morgens erwacht Yu-jin in blutverkrusteter Kleidung. Selbst seine Socken sind steif vor geronnenem Blut. Was ist passiert? Noch schlaftrunken schießen Erinnerungsfetzen durch seinen Kopf:
"Vor meinen Augen tanzen sonderbare Bilder: gelblich trübe Lichtkegel der aneinandergereihten Straßenlaternen im Nebel, das aufgewirbelte Flusswasser unter meinen Füßen, der auf regennasser Straße sich überschlagende scharlachrote Regenschirm, die an einer Baustelle im Wind flatternde Sichtschutzplane."
Bildausschnitte, die im Laufe des Romans wieder auftauchen und sich wie feine Kettenglieder zu einer Abfolge formieren, einem Tathergang samt seiner bedrückenden Vorgeschichte. Doch zu Beginn des neuen Thrillers von Jeong Yu-jeong kann sich Yu-jin erstmal an nichts erinnern. Weil er es ist, der diese Geschichte erzählt, weiß der Leser nur gerade so viel wie Yu-jin selbst. Eine bewusste Entscheidung, sagt die Autorin Jeong Yu-jeong:
"Ich wollte zeigen, wie das Böse im Menschen wirkt. Deshalb konnte ich das Buch nicht aus personaler Perspektive schreiben. Ich hätte meiner Hauptfigur darin nicht so ehrlich und ungeschützt begegnen können. Ich wäre ihr auch immer ein kleines Stückchen voraus gewesen. Stattdessen habe ich mich komplett in diesen Psychopathen eingefühlt. So konnte ich zeigen, wie er die Welt sieht. Deshalb war die Ich-Perspektive wichtig."
Verknüpfung von Erinnerungsschnipseln
Ich-Erzähler Yu-jin hievt sich aus dem Bett, entdeckt einen völlig verwüsteten Wohnbereich und seine tote Mutter. Jemand hat ihr den Hals durchschnitten. Mühsam beginnt er, sich an den Vorabend zu erinnern. Er deutet die Spuren im Haus, rekonstruiert die zeitliche Abfolge einiger Handyanrufe und verknüpft das Ganze mit seinen Erinnerungsschnipseln. Eine Technik übrigens, die Jeong Yu-jeong schon in ihrem Thriller "Sieben Jahre Nacht" hervorragend und aus vier Perspektiven zugleich umgesetzt hat.
Hier nun, in "Der gute Sohn", ist es nur Yu-jin, der erzählt und dem klar wird: Er selbst war es, der die Mutter im Streit getötet hat. Jahrelang hat sie ihren Sohn engmaschig kontrolliert, obwohl er schon 25 ist, Jura studiert und soeben die Zulassung zu einer renommierten Law School bekommen hat. Trotzdem muss er abends um 21 Uhr zuhause sein. Er darf keinen Alkohol trinken und muss täglich seine Medikamente einnehmen, denn er leidet unter Epilepsie. Sagen zumindest die Mutter und ihre Schwester, die die verschreibende Ärztin ist. Die Medikamente aber machen ihn müde. Heimlich setzt er sie manchmal ab.
Dann platzt er geradezu vor Energie, und es treibt ihn hinaus auf die Straße, vor allem nachts. Lange denkt man: Mutter und Tante haben dem armen Yu-jin das Leben zur Hölle gemacht – kein Wunder, dass er irgendwann das Messer zückt. Erst als er auf das Notizbuch seiner Mutter stößt, in dem sie Beobachtungen zu ihrem Sohn aufgeschrieben hat, kommt eine – wenn auch leise, so doch – zweite Erzählstimme hinzu:
"Die Mutter merkt schon früh, dass ihr eigener Sohn ein Psychopath ist. Was tut so eine Mutter dann? Diese Frage trieb mich um. Sie will die Verantwortung dafür übernehmen, dass ihr Sohn Teil der Gesellschaft bleibt, dass er niemandem Schaden zufügt und sich wie ein normaler Mensch benimmt."
Ein furchterregender Sohn
Was dazu führt, dass sie ihn hinters Licht führt – gemeinsam mit ihrer Schwester, die die psychopathologische Hirnstruktur des schon früh zu Grausamkeiten neigenden Jungen schon vor Jahren medizinisch untersucht hat. Ein furchterregender Sohn, der an Doris Lessings familiensprengendes "Fünftes Kind" erinnert. Bei Jeong Yu-jeong aber bleibt die Restfamilie zusammen und der Schein aufrechterhalten.
Yu-jin selbst ahnt nichts von seiner abnormen Disposition, denn er nimmt ja dämpfende Mittel. Wie er sich nun selbst auf die Spur kommt, liest sich sehr spannend. Dabei deutet er – gleich einem Detektiv – klassische Indizien wie Tatwerkzeug, Blutspuren und nasse Schuhe. Blitzartig kehren auch immer mehr Erinnerungen zurück, ausgelöst durch Geräusche, Gerüche und kleine Erlebnisse in den Tagen nach dem Muttermord. Für ihren fünften Thriller hat Jeong Yu-jeong viel recherchiert:
"Diesem Buch liegt einige medizinische Forschung zugrunde – und zwar darüber, wie der Mechanismus der menschlichen Erinnerung funktioniert. Damit habe ich mich intensiv beschäftigt, habe zum Beispiel Fallstudien zu totaler Amnesie gelesen. So wurde mir klar, wie Erinnerungen geformt sind und wie sie auch wiederhergestellt werden können. Auf der Basis dessen habe ich dann meinen Roman konzipiert."
Yu-jins Amnesie rekonstruiert Jeong Yu-jeong genauso glaubhaft, wie sie sie sukzessive auflöst. Bloß, dass sie dabei zu viel erklärt. Klar, jeder Erkenntnisschritt von Yu-jin muss in Text umgewandelt werden, damit der Leser folgen kann. Manchmal aber ist es des inneren Monologs zu viel, zum Beispiel hier:
"Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass mein Körper wieder in den Normalzustand zurückkehrt, wenn ich die Medikamente absetze. Also ist mein Geruchssinn Teil meines wahren Ichs. Wenn das dazu führt, dass ich die Welt auf eine bestimmte Art wahrnehme und dies auf mein Leben einen bestimmten Einfluss ausübt, welcher wiederum mein Leben in eine bestimmte Richtung führt, dann wird es vermutlich ein Problem. Ob meine Tante mir deshalb die Medikamente verschrieben hat?"
Bloß eine Marionette?
Jeong Yu-jeong wagt viel in diesem Roman: Zum einen probiert sie eine ungewöhnliche Thrillerkonstruktion, in der der Täter zugleich der Ermittler ist. Dabei wirft sie die Grundfrage auf, inwiefern Yu-jin wirklich böse ist. Ist er tatsächlich bloß eine "Marionette seines vegetativen Nervensystems", wie er selbst glaubt?
Immerhin hat er an der ehrlichen Aufklärung seiner Geschichte größtes Interesse. Zuweilen agiert er komplett gefühllos – es wird noch weitere Blutopfer geben in diesem Roman –, oft aber empfindet er durchaus etwas für seine Familie und fröstelt angesichts seiner Untaten. Sein Problem ist, dass ihn die untergeschobenen Medikamente so weit runterreguliert haben, dass er sich emotional oder sogar moralisch nicht hat entwickeln können. Hätte er das ohne diese Präparate vielleicht geschafft?
Wichtige Fragen, die Jeong Yu-jeong noch hätte vertiefen können. Wieso hat sie Yu-jin ausgerechnet Jura studieren lassen? Wie steht er selbst zu Recht, Unrecht und gesetzlichen Regelwerken? Gelegentlich zitiert die Autorin auch Darwin. Meint sie, dass Yu-jin der Fittere, der Stärkere ist und sich als Stärkerer natürlicherweise durchsetzen muss? Manchmal sprechen in ihm auch zwei einander widerstreitende Stimmen, die Team Blau und Team Weiß heißen.
Diese Stimmen aber treten nur selten auf und bleiben Zaungäste seines Bewusstseins. Zu einer wirklich schizophrenen Erzählstruktur reifen sie nicht aus. So sind Recht, Moral, psychische Struktur des Menschen Punkte, die eine wichtige Rolle in diesem Thriller spielen. Die Autorin aber tippt sie nur an. Hätte sie sich intellektuell mehr getraut, dann hätte sie ihrem hervorragend angelegten Roman auch eine philosophische Dimension geben können.
Jeong Yu-jeong: "Der gute Sohn"
Aus dem Koreanischen von Kyong-Hae Flügel
Unionsverlag, Zürich. 320 Seiten, 19 Euro.