Archiv

Jérôme Leroy: "Die Verdunkelten"
Das Schnauze-voll-Syndrom

Immer mehr Franzosen lassen alles hinter sich, setzen sich ab, verschwinden - der Staat löst sich auf: Mit diesem dystopischen Szenario setzt der Roman von Jérôme Leroy ein. Eine Mischung zwischen Spionage- und Endzeitthriller, in der ein Schriftsteller in den Blick des Geheimdienstes gerät.

Von Christoph Vormweg |
    Buchcover: Jérôme Leroy: „Die Verdunkelten“
    In Jérôme Leroys Roman "verdunkeln" sich immer mehr Franzosen (Buchcover: Edition Nautilus, Foto: dpa / imageBROKER / Angela to Roxel)
    Täglich verschwinden Menschen, ohne Spuren zu hinterlassen. In Europa betrifft das - offiziell - bisher nur wenige, in Japan aber immerhin ein- bis zweihunderttausend pro Jahr. In einem Interview hat Jérôme Leroy auf dieses japanische Massenphänomen verwiesen. Doch ist die Motivationslage in seinem Roman "Die Verdunkelten" eine andere. Japaner brechen sämtliche Brücken hinter sich ab, um der Familie Schande zu ersparen - meist nach einem Konkurs. Leroys "Verdunkelte" haben einfach nur die Nase gestrichen voll: von einem Kapitalismus, der sie im Hamsterrad der Geldbeschaffung gefangen hält, von einer digitalen Welt mit ihren sozialen Netzwerken, die sich immer mehr als Scheinwelt entpuppt und dem Staat die Überwachung erleichtert. Daher auch die Ambivalenz des Romanprologs, den die ehemalige Geheimagentin Agnès Delvaux Anfang der 2030er Jahre schreibt: in einer Zukunft ohne Computer, ohne Elektrizität. Ist der Sturz zurück in die Steinzeit eine Katastrophe oder ein Glück für die Menschen? Und: Wie konnte es so weit kommen?
    Der Absturz Frankreichs
    Die Geheimagentin beginnt ihren Rückblick Ende 2014, kurz vor dem Terroranschlag auf die Redaktion des Satire-Magazins "Charlie Hebdo". In ihr Visier gerät der 55-jährige Guillaume Trimbert, ein Ex-Lehrer und Schriftsteller, dem der große Durchbruch versagt blieb.
    "Er hatte sogar seinen eigenen kleinen Gefährdervermerk, der unscheinbare Schriftsteller. […] Um ehrlich zu sein, las ich aus den Angaben, die mir zur Verfügung standen, einen gewissen Hang zum Schmieren-Komödiantentum heraus, gepaart mit einer leichten geistigen Verwirrung. Er war also ein Verwirrter. Und er wartete wie so viele andere darauf, sich langsam zu verflüchtigen, hinzuwerfen, einen Schritt zur Seite zu tun statt nach vorne. Er wartete darauf, ein Verdunkelter zu werden […], wollte offenbar nicht allein von den Zuwendungen seiner Mäzenin abhängig sein."
    Die Schreibmotivation von Agnès Delvaux ist die einer Mutter: Sie will ihrer fast 17-jährigen Tochter Ada Anfang der 2030er Jahre den Absturz des alten Frankreich schildern - und zwar aus zwei Perspektiven: aus ihrer eigenen als Mitarbeiterin des französischen Geheimdienstes und aus der des observierten Schriftstellers Trimbert, dessen Notizbücher sie heimlich gelesen hat.
    Jägerin und Gejagter
    Jérôme Leroys Roman "Die Verdunkelten" ist also eine Mixtur aus Spionage- und Endzeitthriller, aus Krimi und Science Fiction. Im ständigen Wechsel folgen wir der Beschatterin und dem ahnungslos Beschatteten, aus denen nach und nach Jägerin und Gejagter werden. Die Spannung wird durch die Dynamik der Zeitsprünge noch gesteigert: aus dem wachsenden Chaos nach den Terroranschlägen von 2015 zurück in die Lebensgeschichten der Protagonisten und wieder nach vorn in die Zukunft der - wie es heißt - "neuen Welt".
    Der 55-jährige Trimbert entpuppt sich als klassischer Altlinker, der von einer "Bibliothek des Unerreichbaren" träumt. In seiner Charakterzeichnung kann Jérôme Leroy - in einer eingängigen, klaren, soliden Prosa - auch seine sanft ironischen Kapazitäten ausspielen. Im Jahr 2015 wird in Paris überall gestreikt und demonstriert. Doch die einstigen Gefühlslagen des engagierten Schriftstellers und Weltverbesserers findet Trimbert nicht wieder.
    "Ich ging früher gerne auf Demos, ich mochte es, wenn es am Schluss hoch her ging, man anschließend an einem Bartresen sein Transparent zusammenrollte, um mit den Kumpels einen zu trinken. […] Aber ich glaube nicht mehr daran. Nein, das ist falsch ausgedrückt. Ich glaube immer noch daran, ich hoffe sogar, dass es gelingen möge, denn Tava, seine jungen Freunde und ich haben schließlich die gleiche Vorstellung vom Paradies, eben das, was ich als eine Spielart des Kommunismus bezeichne, die sexy ist, poetisch und das Flair eines Badeortes hat. Aber ich sehe nicht, oder nicht mehr, welchen Platz ich darin habe, welche Rolle ich darin spielen könnte."
    Massenhysterie und Machtmissbrauch
    Trimbert ist der egozentrisch sensible Ex-Lehrer, der für die Literatur alle Sicherheiten über Bord geworfen hat. Drei große Liebesgeschichten scheiterten. Als ihn auch noch die bisexuelle Mariama verlässt, steuert er - wie es heißt - auf seinen "persönlichen Ausnahmezustand" zu. Damit wird Trimbert für den Geheimdienst zum Studienobjekt: als Beispiel für das grassierende Schnauze-voll-Syndrom. Es bringt immer mehr Franzosen dazu, alles stehen und liegen zu lassen und sich allein in die hinterste Provinz abzusetzen: Auch Minister oder der Verantwortliche für die Sicherheit der Atomkraftwerke sind darunter. Als wäre es eine Massenhysterie. Agnès hat aber noch ein anderes Interesse an dem müde-deprimierten Poeten. Welches sei hier nicht verraten. Nur so viel: Je mehr Macht der französische Staat dem Geheimdienstapparat im Zuge der Terror-Krise gibt, umso subjektiver agieren viele Agenten. Gewaltexzesse und Machtmissbrauch sind an der Tagesordnung.
    "Ich trug eine frigide Form von Gewaltbereitschaft in mir, Trimbert, und ich hoffte, dass jetzt, wo ich dich gefunden hatte, durch dich alles anders werden würde. Dass ich von nun an einen echten Orgasmus haben würde bei dem Gedanken, dass du unter meiner ständigen Beobachtung standst, in jedem noch so unbedeutenden Moment deines Lebens, Opfer einer permanenten und minutiös durchgeführten Vergewaltigung."
    "Die Verdunkelten" ist ein Endzeit-Thriller, der mit unseren täglich von den Medien befeuerten Ängsten spielt. Hellsichtig rechnet Jérôme Leroy das theoretisch Mögliche zum Untergangsszenario hoch. Doch nicht die "schmutzige Bombe", die einem Achtel der Franzosen den Tod bringt, rückt er in den Mittelpunkt. Vielmehr macht er die Menschen, die für die Regierenden nur noch banale Ziffern sind, selbst zu Zeitbomben. Denn kein Staatsgefüge kann funktionieren, wenn die Mehrheit aus Überdruss oder Ekel aussteigt. Insofern ist der Roman "Die Verdunkelten" zutiefst beunruhigend, ja verstörend. Nur das idyllisch-utopische Finale hätte sich Jérôme Leroy besser gespart. Denn dass der Mensch durch Erkenntnis und Erfahrung besser würde und eine schöne, neue Welt errichten könne, hat sich bisher immer als hehre Illusion erwiesen.
    Jérôme Leroy: "Die Verdunkelten"
    Aus dem Französischen von Cornelia Wend
    Edition Nautilus, Hamburg. 222 Seiten, 18,00 Euro