Freitag, 19. April 2024

Archiv

Gründung eines Bundesverbandes
Jesiden in Deutschland organisieren sich

Am Sonntag gründet sich in Bielefeld der Bundesverband der Jesiden. Rund 200.000 Angehörige dieser religiösen Minderheit leben in Deutschland. Jesiden werden im Drei-Länder-Eck Türkei-Irak-Syrien schon lange diskriminiert, seit 2014 fliehen sie vor der IS-Terrormiliz. Jetzt suchen sie nach neuen Formen der Selbstorganisation in der neuen Heimat.

Von Anke Petermann | 26.01.2017
    Teilnehmer des Kulturtages der Jesiden tanzen am 20.08.2016 vor der Kulturstätte in Celle (Niedersachsen). Die größte Exil-Gemeinschaft der Jesiden befindet sich in Deutschland. Hier leben zwischen 50.000 und 90.000 Jesiden, überwiegend in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen.
    Jesidischer Kulturtag in Celle (dpa / Peter Steffen)
    Salar Rashu studiert Philosophie und Geschichte im Mainz. Der 23-Jährige kam schon als Kind nach Frankfurt am Main. Er liebe Deutschland, habe der verstorbene Vater stets gesagt: als neue Heimat, die ihn seinen Glauben leben ließ und seinen Kindern die Bildung ermöglichte, die ihnen im Nordirak versagt geblieben wäre:
    "Vor allem diejenigen, die nach Deutschland kommen - durch diese Verfolgung - die legen viel Wert auf Bildung. Das ist eine Priorität, dass die Kinder das Abitur machen und studieren und dass man einen Klassensprung schafft, von dem Bauern aus dem Irak, die damals schon im Irak viel Wert auf Bildung legten, aber im Irak diesen Sprung nicht schaffen konnten. Aber jetzt in Deutschland wird ihnen diese Möglichkeit geboten, und diese nutzen sie auch."
    Streben nach dem Guten
    So erzählt Rashu in einer Mainzer Studentenkneipe. Was seine Religion angeht, betrachtet er sich selbst als Forschenden, er weiß wenig über seinen Glauben. Deshalb will er gemeinsam mit einem jüngst aus dem Irak geflohenen Lehrer einen jesidischen Verein für Südhessen gründen. Der soll Räumlichkeiten für religiöse Feste anbieten, Religionsunterricht für Kinder ermöglichen und Anlaufstelle für Erwachsene sein, die mehr über ihre Kultur erfahren wollen. Und auch wenn er seine Religion nicht genug kennt, wie er sagt: Salar Rashu spricht jeden Abend ein Gebet, wie es ihn sein Vater gelehrt hat. Frieden und Wohlergehen wünscht er zunächst den Völkern der Welt, erst danach auch seinem eigenen Volk.
    "Was mir sehr gefällt, ist, dass man an das Gute glaubt, dass es keinen Gegenpol zu einem Gott gibt. Dass es das Böse in Person nicht gibt. Und das gefällt mir, dieses Streben nach dem Guten".
    Von vielen Muslimen verachtet
    Jesiden werden als Teufelsanbeter diffamiert, weil einer der Engel, den sie verehren, als gefallener Engel, als Lucifer gilt. Eine Fehlinterpretation, die dafür sorgt, dass Jesiden - von vielen Muslimen verachtet - in keinem Flüchtlingslager sicher sind. Auch ihm brächten Muslime zuweilen Feindseligkeit entgegen, erzählt Rashu. Mit dunklen Haare und dunklem Bart sieht er zwar aus wie ein Araber oder Kurde, aber dass er im Ramadan nicht fastet und sein Kurdisch eine Dialektfärbung hat, verrate seine Herkunft.
    Eine Flüchtlingshelferin hat den Studenten gebeten, Kontakt zu einer jesidischen Familie in Niederolm bei Mainz aufzunehmen und sie über den neuen Verein zu informieren. Die Ibrahims sind mit zwei Kleinkindern vor dem IS aus Syrien geflohen und haben den Kontakt zur gesamten Verwandtschaft verloren - ob ihre Angehörigen den Völkermord überlebten, wissen sie nicht. In der rheinhessischen Kleinstadt hat die Familie Kontakt zu aufgeschlossenen kurdischen Muslimen, doch ohne Anschluss an die jesidische Gemeinschaft fühlt sie sich isoliert.
    "Ezidi?" Das fragen die Ibrahims den Studenten Rashu bei dessen erstem Besuch: Dann erst stellen sie sich vor.
    "Das ist immer die erste Frage, also öfter. Man traut sich oft als Jeside gar nicht auszusprechen, was man denkt, weil man mit Vorurteilen bestückt wird. Und wenn man weiß, dass das Gegenüber auch Jeside ist oder toleranter oder Christ, dann kann man viel offener reden."
    Beim Sprachkurs in Mainz verheimlicht Aziz Ibrahim, dass er Jeside ist. Rashu:
    "Er erzählt nur, dass er kurdischer Abstammung ist."
    Sheikh für die Taufe gesucht
    Die Flüchtlingshelferin Eva Weinitschke hat Rashu zu den Ibrahims begleitet, sie kauert auf dem Boden malt mit den vier-und fünfjährigen Kindern. Ibrahim steht vom Sofa auf und nimmt zwei bläulich-bunte Pfauen aus Metall aus der Schrankwand. Gekauft hat er sie in einem türkischen Laden in Mainz. Rashu:
    "Er zeigt auf den Pfau, als ich ihn gefragt habe, ob er die Kinder religiös erzieht, er meint auch, dass er ihnen die Symbole zeigt und die Dinge beibringt. Der steht für den Engel Tausi Melek."
    "Gagaga!"
    Ibrahim Aziz hat Alex, seinen in Deutschland geborenen Sohn, auf den Schoß genommen und schäkert mit dem Baby. Für die Taufe des vier Monate alten Jungen sucht die Familie einen Sheikh, einen Priester.
    "Und weil es hier keinen gibt, haben sie mich gefragt, ob man das organisieren könnte, dass ein Sheikh kommt. Das geht auf jeden Fall. In Frankfurt gibt es genügend, die das machen würden."
    Einen religiösen Rat aufbauen
    Zum Abschied werden Telefonnummern ausgetauscht. Auch in Frankfurt hilft Rashu jesidischen Flüchtlingen weiter. Die Vertreibung aus den kurdischen Gebieten hat die Gemeinde der Exil-Jesiden in Deutschland vergrößert. Auf 200.000 schätzt Irfan Ortac ihre Zahl. Der Politologe und Gießener Sozialdemokrat gehört zu den Gründern eines Bundesverbandes, der das neue Dach jesidischer Vereine und Gemeinden in Deutschland sein soll. Er ersetzt den bisherigen Zentralrat, will dessen Arbeit professionalisieren. Zur Neugründung gehört auch, so der Bielefelder Mitgründer Aslan Kizilhan, "einen kleinen religiösen Rat aufzubauen. Es gibt Konflikte in dieser Gesellschaft, es gibt Dinge, die falsch interpretiert werden. Meine Kinder sind hier geboren und fragen sich: Was sind Jesiden? Was ist der Inhalt? Wir sprechen zwar zuhause darüber, aber wir brauchen ein Buch, in dem man das nachlesen kann – in Deutsch."
    So Kizilhan am Rande einer Mainzer Tagung über "Verfolgte Minderheiten". Der Islamische Staat hat die ohnehin konfliktreichen Beziehungen von Muslimen und Jesiden im Orient endgültig zerstört, konstatieren Wissenschaftler auf diesem Kongress. Eine Ära von anderthalbtausend Jahren steht damit vor dem Abschluss.