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"Jetzt ist die Lage eskaliert"

Der Publizist und Nahostexperte Michael Lüders hält die Krise im Libanon für "brandgefährlich". Das Land habe sich in den letzten Monaten politisch selbst blockiert. Die libanesische Regierung habe angesichts einer möglichen Bedrohung durch radikale Palästinenser überreagiert. Gleichzeitig zeige die aktuelle Lage das Ausmaß der ungelösten palästinensischen Flüchtlingskrise.

Moderation: Dirk-Oliver Heckmann |
    Dirk-Oliver Heckmann: Seit Sonntag toben die Kämpfe um das palästinensische Flüchtlingslager Nahr al-Bared im Norden Libanons. Die libanesische Armee geht dort gegen Angehörige der radikal-islamischen Miliz Fatah al Islam vor, die sich in dem Lager verschanzt halten, und treffen dabei auch Zivilisten. Niemand weiß genau, wie hoch die Zahl der Todesopfer ist, denn das Lager ist von der Außenwelt abgeschnitten. Verletzte können offenbar nicht versorgt werden. Gestern ging dann auch noch in der Hauptstadt Beirut eine Bombe hoch. Wie durch ein Wunder gab es dabei nur Verletzte. Zu dem Anschlag bekannte sich eben jene Islamisten-Miliz, deren Auslöschung die Regierung in Beirut nun angeordnet hat.

    Am Telefon ist jetzt der Publizist und Nahostexperte Michael Lüders. Herr Lüders, wie beurteilen Sie die Lage im Libanon? Steht das Land vor einem neuen Bürgerkrieg?

    Michael Lüders: Das befürchten viele Libanesen, dass die Situation völlig außer Kontrolle geraten ist. Die meisten Libanesen wollen keinen Rückfall in den Bürgerkrieg. Die Erinnerung an den 15jährigen zerstörerischen Krieg von 1975 bis 1990 sind noch tief. Aber die Innenpolitik des Landes ist völlig verfahren. Es gibt zwei verfeindete Lager, die miteinander nicht mehr reden. Und nun explodiert die Gewalt in Tripolis, im Norden des Landes, ein Kampf zwischen der Armee und zwischen radikalen Palästinensern. Dieses wäre für sich genommen eigentlich kein Problem. Es wird aber zum Problem dadurch, dass die gesamte Infrastruktur des Libanon, die gesamte politische Klasse nicht mehr voll funktionstüchtig ist. Das Land hat sich selbst blockiert in den letzten Monaten und es gibt keinen Ausweg aus dieser Krise. Deswegen ist das, was jetzt geschieht so brandgefährlich und in der Tat könnte es die Vorstufe eines neuen Bürgerkrieges werden.

    Heckmann: Wenn wir mal auf die Kämpfe rund um das Flüchtlingslager bei Tripolis eingehen. Wie würden Sie denn das Vorgehen des libanesischen Militärs beurteilen? Ist das noch vom Völkerrecht gedeckt?

    Lüders: Es ist vom Völkerrecht gedeckt, denn der Libanon ist ein souveräner Staat und wenn Gruppen sich sozusagen exekutive Befugnisse anmaßen und als bewaffnete Gruppen, als Staat im Staate auftreten, dann ist natürlich der libanesische Staat gefordert, sich hier zur Wehr zu setzen. Das ganze ist natürlich in psychologischer Hinsicht sehr prekär, denn 1975 begann der damalige Bürgerkrieg im Libanon auch mit einer Auseinandersetzung um ein palästinensisches Flüchtlingslager in Beirut. Deswegen haben so viele Libanesen Angst davor, dass es erneut eskalieren könnte. Dieses Flüchtlingslager bei Tripolis ist seit Jahrzehnten eine Hochburg radikaler Palästinenser. Zunächst waren sie nationalistisch orientiert, jetzt islamistisch orientiert. Dieses Drama, das sich dort abspielt, ist Ausdruck der ungelösten palästinensischen Flüchtlingskrise, die immer wieder in den Nachbarländern Israels große Probleme ausgelöst hat, In Jordanien zunächst und später dann im Libanon.

    Heckmann: Aber gilt es nicht auch, die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu wahren in einer solchen Situation und ist es vor diesem Hintergrund angezeigt, in ein Flüchtlingslager hineinzuschießen und zivile Opfer in Kauf zu nehmen?

    Lüders: Es war zumindest äußerst unklug, was die libanesische Armee getan hat. Sie hätte taktisch besser agieren können. Es gab vorher Angriffe aus dem Flüchtlingslager in Richtung Tripolis und der libanesische Staat reagiert sehr nervös auf jede Herausforderung der eigenen Macht, denn wie gesagt das Land ist gelähmt, vor allem durch prosyrische Gruppierungen wie die Hisbollah, die Partei Gottes, die versuchen, die jetzige Regierung zu stürzen, und ich nehme an, dass die Regierung in Beirut große Angst hat, dass die Palästinenser in diesem Flüchtlingslager bei Tripolis jetzt als Agenten Syriens gewissermaßen eine zweite Front zu eröffnen versuchen, um die Regierung in die Knie zu zwingen. Auch vor diesem Hintergrund hat die Regierung außerordentlich nervös reagiert und taktisch nicht unbedingt klug. Jetzt ist die Lage eskaliert.

    Heckmann: Was ist das für eine Organisation? Die Fatah al Islam ist im Westen relativ unbekannt. Was sind ihre Ziele?

    Lüders: Darüber wissen wir relativ wenig. Es sind Gruppierungen, die nicht nur im Libanon, sondern auch im Gaza-Streifen zu beobachten sind, palästinensische Gruppierungen radikaler Couleur, die davon profitieren, dass im nahöstlichen Friedensprozess seit Jahren nichts Konstruktives mehr passiert, die Dinge stagnieren, und radikale Bewegungen, zunächst einmal nationalistischer, heute vor allem islamistischer Couleur, besetzen ein Vakuum, geben sich sehr radikal, sind nichts und niemandem verpflichtet, sind teilweise ganz gewöhnliche kriminelle Gangs wie auch im Gaza-Streifen. Sie nehmen das Gesetz in die eigene Hand, machen auch Entführungen wie im Irak. Der BBC-Reporter Alan Johnson wird ja seit Wochen im Gaza-Streifen festgehalten. Wir erleben hier also die Erosion staatlicher Strukturen nicht nur im Irak, sondern zunehmend auch im Libanon und im Gaza-Streifen und das ganze ist eine brandgefährliche Situation, da im Nahen Osten alle Konflikte wie durch unterirdische Röhren miteinander verbunden sind. Wenn es an der einen Ecke brennt, dann kann es auch an einer anderen sehr schnell zu Explosionen kommen.

    Heckmann: Die Organisation ist nichts und niemandem verpflichtet, haben Sie gerade eben gesagt. Das heißt sie ist auch nicht von Syrien gesteuert, wie es immer wieder heißt?

    Lüders: Das sagen libanesische Behörden. Das sagen auch viele Libanesen in Tripolis, dass diese Organisation von Syrien unterstützt wird. Es gibt dafür allerdings keine wirklich handfesten Beweise. Der Verdacht liegt nahe, denn diese Organisation Fatah al Islam ist gut bewaffnet, verfügt über modernstes technisches Kriegsgerät. Da sie das von der libanesischen Armee natürlich nicht bekommt liegt es nahe, die Vermutung zu äußern, dass Syrien hier seine Finger im Spiel hat. Aber einen klaren Beweis gibt es dafür nicht. Gleichwohl versucht die pro-syrische Opposition im Libanon, vor allem die Regierung unter Druck zu setzen, damit es nicht zu einer internationalen Untersuchung des Mordes an Rafiq Hariri Anfang 2005 kommt, des damaligen Ministerpräsidenten. Syrien will das verhindern, weil die Spuren dieses damaligen Attentates in Richtung Damaskus weisen. Vor diesem Hintergrund - so argumentieren viele Libanesen - versucht Syrien, den Druck auf die Regierung in Beirut zu erhöhen, um Abstand zu nehmen von dieser Idee, eine solche Untersuchungskommission einzuberufen.

    Heckmann: Herr Lüders, derzeit tun etwa 3000 deutsche Soldaten ihren Dienst im Rahmen einer Friedensmission vor der Küste Libanons. Sehen Sie die Gefahr, dass diese deutschen Soldaten in den Konflikt hineingezogen werden?

    Lüders: Die deutschen Soldaten leisten natürlich einen sehr guten Einsatz vor der Mittelmeerküste. Ihr Engagement ist nicht zu bezweifeln. Aber von der Sache her ist dieses Mandat, das die Bundeswehr dort ausübt, natürlich durchaus skeptisch zu sehen, denn der Waffennachschub der Hisbollah ist nie auf dem Seeweg erfolgt. Insofern bewachen die deutschen Soldaten hier einen Teilbereich des Problems, das in der Realität gar nicht so gegeben ist, denn der Waffennachschub erfolgt über den Landweg. Die Möglichkeit der deutschen Soldaten, vor der Küste des Libanon Einfluss zu nehmen auf die Ereignisse im Libanon, liegt nüchtern gesehen bei null.

    Heckmann: Und die Gefahr, in den Konflikt hineingezogen zu werden?

    Lüders: Das kann sehr schnell passieren, denn die Lage im Libanon ist sehr explosiv und es kann natürlich schnell dann die Forderung erhoben werden an die deutsche Regierung, dass sich die deutschen Soldaten beteiligen in einer Maßnahme der Friedenssicherung, um Flüchtlinge beispielsweise zu versorgen, und das ist politisch natürlich sehr, sehr heikel. Wir sehen ja, was in Afghanistan passiert ist. Also auf die Bundeswehr und auch die Bundesregierung kommen hier große Herausforderungen zu.

    Heckmann: Zur aktuellen Lage im Libanon war das der Nahostexperte Michael Lüders.