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Jewdokija Rostoptschina: "Die Menschenfeindin"
Eine stolze Romantikerin

Erstmals auf Deutsch präsentiert diese umfassende Werkausgabe eine der wichtigsten russischen Dichterinnen des 19. Jahrhunderts: die stolze und gerechtigkeitsliebende Romantikerin Jewdokija Petrowna Rostoptschina. Sie wurde durch ihr Engagement für das unfreie Polen zur Dissidentin.

Von Katrin Hillgruber | 24.05.2019
Zu sehen ist eine Daguerreotypie der Autorin Jewdokija Rostoptschina aus dem Jahr 1858 und das Cover des Buches "Die Menschenfeindin. Gesammelte Dichtungen".
Das Werk von Jewdokija Rostoptschina, hier im Jahr 1858, ist nun zum ersten Mal auf Deutsch erschienen (Cover: Klever Verlag)
"Dodo" wurde sie in den Moskauer Salons der 1830er Jahre genannt. Diese Verdoppelung des dunkelsten Vokals o passte vortrefflich zu den schwarzen Augen, mit denen die jugendliche Gräfin Jewdokija Petrowna Rostoptschina, geborene Suschkowa, gehöriges Aufsehen erregte. Eine innige Freundschaft verband sie mit dem Romantiker Michail Lermontow. Er widmete seiner Seelenverwandten das Gedicht "Dodo":
"Du bringst die Herzen zum Erbeben, / dir drehn sich alle Köpfe zu, / mit zartem Lächeln schenkst du Leben, / mit stolzem Lächeln tötest du;
Und willst du schmeicheln oder loben, / so bleiben deine Worte karg, / die Allzuklugen lässt du toben / und machst dich für die Narren stark!"
In diesen Zeilen Lermontows deutet sich der starke, unabhängige Charakter der Zwanzigjährigen an. Jewdokija Rostoptschina debütierte 1831 mit dem Gedicht "Talisman" in dem Poesie-Almanach "Nördliche Blüten". Diesen Titel greift Lermontow auf, indem er Jewdokija als "fremdes Götterbild" apostrophiert, das es ins – wie es heißt - "kalte nordische Gefild" verschlagen habe. Passenderweise entflammte die Dichterin später für Italien, das sie im Rahmen einer mehrjährigen Reise kennenlernte und dem sie Werke wie den Roman "Parlazzo Forlì" widmete. 1845 brach sie nach Westeuropa auf. Mit dabei waren ihre drei Kinder sowie der ungeliebte, offenbar recht rohe Ehemann, in dessen Arme sie früh vor ihrer strengen Verwandtschaft geflohen war.
Sympathie mit den Dekabristen
Der Weg nach Italien führte Jewdokija Rostoptschina durch Polen und über den für wohlhabende Russen obligatorischen Kurort Baden-Baden. Schon früh sympathisierte die freisinnige Moskauerin mit den Dekabristen, jenen adligen Offizieren, die sich 1825 gegen die Allmacht des Zaren und insbesondere die Leibeigenschaft auflehnten. Darauf antwortete die Obrigkeit mit Hinrichtung oder Verbannung. Die Verhältnisse im seit 1772 zwischen Russland, Preußen und Österreich aufgeteilten Polen empörten Rostoptschina nicht minder. Im September 1845 notierte sie:
"Und während ich Mitleid mit den Juden empfinde, die von den Polen unterdrückt und beleidigt werden, fühle ich zugleich Mitleid mit Polen, das erniedrigt, geknechtet und vernichtet ist. Dieses Land erinnert mich an eine Frau in kostbarer Kleidung, die in Luxus lebt. In der Gewalt des groben Gatten leidet sie an ihrer Knechtschaft und beklagt heimlich ihren Reichtum."
Die Fahrt durch das ehemalige Kongresspolen, das seit 1831 zu Russland gehörte, inspirierte Rostoptschina zu einem ebenso mutigen wie für sie verhängnisvollen Poem. Sie nannte es "Zwangsheirat" und im Untertitel "Ballade und Allegorie". Darin setzt sie das von Russland unterdrückte slawische Bruderland mit einer reichen, aber unglücklichen Ehefrau gleich, die unter ihrem Mann zu leiden hat. Kein Geringerer als Nikolai Gogol, der Jewdokija Rostoptschina in Rom empfing, riet ihr zur Publikation der Ballade im St. Petersburger Sammelband "Nordische Biene". Dessen überaus patriotischer Herausgeber Faddej Bulgarin erkannte zunächst nicht, dass die Autorin nicht über ihre eigene unglückliche Ehe geschrieben hatte. In Wahrheit argumentierte sie im Sinne des europäischen Völkerfrühlings für ein unabhängiges Polen.
Ein ungeheurer Skandal
In Russland braute sich ein ungeheurer Skandal zusammen, der die ahnungslose Heimkehrerin mit voller Wucht traf. Die Zensur verbot den Almanach. Rostoptschinas inkriminierte Ballade kursierte in Abschriften und machte die Autorin populär. Zar Nikolaus persönlich ließ sie 1849 beim Festball zur Einweihung des Großen Kremlpalastes abweisen, wie sich ihre Tochter Lydia erinnerte.
Alexander Nitzberg beschreibt in seinem Nachwort anschaulich, wie die stolze Individualistin und für ihn "letzte Romantikerin" Rostoptschina zwischen die Fronten der Westler und der Slawophilen geriet. Nach einigen Jahren in St. Petersburg kehrte sie 1850 nach Moskau zurück, wo sie literarische Nachwuchstalente in ihren Samstagssalon einlud. Viele ihrer naturalistisch gesonnenen Schützlinge dankten es ihr allerdings nicht, sondern verspotteten die adelige Romantikerin in Hetzartikeln. Zur Rufschädigung gesellte sich Neid. 1858 erlag Jewdokija Rostoptschina kurz vor ihrem 47. Geburtstag einem Krebsleiden.
"Die Menschenfeindin" zum ersten Mal auf Deutsch
Alexander Nitzberg leistet mit dieser sorgsam edierten russisch-deutschen Werkausgabe wertvolle Pionierarbeit. So hat er nicht nur für Rostoptschinas unter anderem an Schiller orientierte Lyrik passende deutsche Versmaße gefunden. Vielmehr stellt er dem hiesigen Publikum auch erstmals ihr fünfteiliges Drama "Die Menschenfeindin" aus dem Jahr 1849 vor. In dessen Zentrum steht die Gutsherrin Zoë, die sich, umgeben von Marmorstatuen und Alabastervasen, kompromisslos dem Schreiben widmet. Entsprechend klagt Zoës Verehrer Valentin:
"Sie ist kein Weib, sie ist ein Fabelwesen, / ist eine fleischgewordene Hieroglyphe, ist eine seltsam paradoxe Mischung verschiedener Ideen und Charaktere!"
Von der Liebe enttäuscht, wirft Zoë alle eintreffenden Briefe in den Kamin. Heiratskandidaten weist sie barsch ab, zugleich richtet die polyglotte Junggesellin die Hochzeit für die Tochter ihrer Schweizer Pächterin aus. Zoë lenkt einen Jockeywagen und setzt sich auch sonst über alle Konventionen hinweg, was von ihrer Dienerschaft eifrig diskutiert wird. Das grimmig-ironische Stück liest sich wie eine Wunschbiographie seiner freiheitsliebenden Verfasserin. Mit der eigenwilligen Zoë erschuf Jewdokina Rostoptschina einen literaturgeschichtlich seltenen weiblichen Dandy, der seinen Weltekel mit Luxus tarnt. Diese "Menschenfeindin" möchte man alsbald auf der Bühne agieren sehen.
Jewdokija Rostoptschina: "Die Menschenfeindin. Gesammelte Dichtungen"
Herausgegeben, aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort von Alexander Nitzberg
Klever Verlag, Wien. 196 Seiten, 22 Euro.