Donnerstag, 28. März 2024

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Joachim Meyerhoff: "Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke"
Erwachen aus einer großen Traurigkeit

Unter dem Namen "Alle Toten fliegen hoch" hat Joachim Meyerhoff die Geschichte seiner Familie auf die Bühne gebracht und später als Roman verarbeitet. Teil drei "Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke" erzählt von den schwierigen Anfängen des Theaterschauspielers und von der großbürgerlichen Welt seiner Großeltern.

Von Holger Heimann | 10.02.2016
    Joachim Meyerhoff, Schriftsteller und Schauspieler, 2013 beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt
    Joachim Meyerhoff, Schriftsteller und Schauspieler, 2013 beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt (picture alliance / dpa / Gert Eggenberger)
    Drei Rollen soll jeder der Bewerber an der berühmten Otto-Falckenberg-Schule vorspielen. Doch der Ich-Erzähler in Joachim Meyerhoffs neuem, autobiografischem Roman "Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke" hat nur Büchners "Danton" geprobt. Überraschend wird er trotzdem angenommen, ist einer der neun Glücklichen von 931 Bewerbern. Aber was heißt glücklich? Der Absolvent hat bald erhebliche Zweifel an seiner Eignung. Und er fragt sich beständig, ob nicht doch der angebotene Job als Zivi in einem Münchner Krankenhaus die weitaus bessere Wahl gewesen wäre – verbunden mit der verlockenden Aussicht auf einen Schlafplatz im Schwesternwohnheim. Beim Theater jedenfalls scheint er völlig fehl am Platz. Die Verunsicherung wächst beinah mit jeder Unterrichtsstunde: Die Sprecherziehung etwa wird zur Tortur, bei der die natürlichsten Dinge der Welt ihre Selbstverständlichkeit einbüßen:
    "In diesem Raum, an dieser Wand, an diesem Vormittag verlor meine Atmung ihre Unschuld, wurde von der schütteren Sprecherzieherin gnadenlos entjungfert. Ich hasste meinen Atem, der nicht tat, was ich wollte. Der stockte und klemmte. Der alles andere war als ein weicher Fluss, auf dem die Vokale strömten. Nie hatte ich mich beim Sport um diesen Atem gekümmert. Immer hatte er mich trotz größter Anstrengung verlässlich mit Sauerstoff versorgt. Doch an dieser Wand, an der nun tatsächlich mein Atemselbstverständnis exekutiert worden war, ging etwas zu Ende und eine Leidensgeschichte begann."
    Rolle des distanzierten Beobachters bleibt ihm verwehrt
    Der Schauspielschüler ist nach München gekommen, um sein früheres Leben möglichst weit hinter sich zu lassen. Er ist ein Trauernder, der über den Unfalltod des Bruders und das Sterben des Vaters nicht hinwegkommt und sich mehr und mehr in sich selbst verschließt. Am liebsten ist ihm die Rolle des distanzierten Beobachters. Genau diese aber bleibt ihm an der Schauspielschule verwehrt. Stattdessen wird er mit Nachdruck immer wieder auf sich selbst gestoßen. "Draußen ist es interessant, drinnen ist es spannend", gibt ihm einmal eine Lehrerin mit auf den Weg. Überforderung gehört zum Programm der Schule. Die ausgefallenen Unterrichtsmethoden tragen rasch das ihrige zur immer weiter reichenden Irritation bei. "Und hier, mein lieber Held, immer schön locker bleiben. Mach das Löchlein weit!" – lautet die Anweisung einer verschrobenen, in die Jahre gekommenen Dozentin, während sie die Hand ungeniert über den Jeanshintern ihres verklemmten Zöglings wandern lässt. Beim ersten Auftritt vor Publikum soll er schließlich ein Nilpferd mimen und dabei zugleich Fontanes "Effi Briest" spielen. Eine Unmöglichkeit auch dies.
    "Ich ging in die Knie, machte mich so schwer ich konnte, versuchte irgendwie fett auszusehen und stapfte mit Nilpferdblinzeln hinaus auf die Bühne. In den nächsten Minuten verlor ich vollkommen mein Zeitgefühl. Mein Text schien ewig zu dauern. Ich wurde nervös, machte aber weiter nichts, als sehr langsam zu sprechen, zu blinzeln und zu versuchen, einen riesigen Hintern zu haben. Ich hatte mir fest vorgenommen hin und wieder mein Maul aufzusperren, mit unsichtbaren Hauern in die Luft zu schnappen, aber der Mut kam mir abhanden. Maulend zerkaute ich den Text und eine sich von der Zungenspitze rasant ausbreitende Dürre trocknete meinen Mund aus."
    Ausbildung gleicht zunehmend einer Folter
    Völlig ausgepumpt und zunehmend derangiert schleppt sich der vermeintlich gänzlich Untalentierte nach der zunehmend einer Folter gleichenden Ausbildung tagtäglich in eine Welt wie aus einer anderen Zeit. Er ist Gast bei seinen Großeltern in einer alten Villa beim Nymphenburger Schloss und gerät hinein in ein Leben voller Schrullen und Rituale, strukturiert durch einen gewaltigen Alkoholkonsum: Zum Aufstehen gibt es Champagner, es folgen zu vorgegebenen Tageszeiten in einem immer gleichen Rhythmus Weißwein, Whisky, Rotwein und zum krönenden Abschluss Cointreau. Abends schwebt man wohlig-betrunken engelsgleich mit dem Treppenlift ins Schlafgemach. Der pedantische Großvater, ein bekannter Philosoph, hält trotzdem eisern an seiner Arbeit am Staatslexikon fest, auch wenn er vermutet: "Na, das R werde ich wohl nicht mehr erleben." Der Großmutter hingegen, einer ehedem gefeierten Schauspielerin, ist das Theatralische zur zweiten Natur geworden und bestimmt so auch ihren Lebensalltag.
    "Es konnte passieren, dass sie wie von einem tiefen Schmerz durchdrungen den Blick in die Ferne schweifen ließ, so langsam die Arme hob, dass nicht einmal die goldenen Armreife aneinander klackten, und erst, als sie sicher war, dass alle am Tisch gebannt zu ihr sahen, sagte: "Moooahhhh ...", und dann, nach einer langen, spannungsgeladenen Pause, "der Brie ist ja ein Gedicht heute Abend."
    Joachim Meyerhoff ist ein sehr genauer, geradezu zärtlicher Beobachter und überdies ein wunderbar leichtfüßiger Erzähler mit viel Gespür für Dramaturgie und feinem Sinn für dialogischen Esprit. Dieser dritte Teil seines Erinnerungszyklus gerät immer wieder zur überschwänglichen Liebeserklärung an die großbürgerliche, ferne Welt der Großeltern. Verlag und Autor haben das Ganze dabei wohlweislich nicht als reinen Tatsachenbericht apostrophiert. Roman steht – wie schon bei den vorangegangenen Bänden – als Gattungsbezeichnung auf dem Buchcover. Ein darauf abgebildetes Foto zeigt die Großmutter in jungen Jahren. Meyerhoff geht es einmal mehr um das Vergegenwärtigen des Vergangenen. Sein Buch ist eine feierliche Erinnerungs-Seance, bei der er ihm nahe Menschen wieder aufleben lässt. In einem Interview hat der Autor einmal erklärt, dass er sich erst durch Erfinden neue Teile der eigenen Biografie erschlossen habe. Das gilt für das gesamte autobiografische Projekt. Meyerhoffs Schreiben charakterisiert ein unauflösliches Ineinander von Erinnern und Erfinden. Es ist jedoch erst sein enormes literarisches Talent, das aus den tatsächlichen und den imaginierten Bildern einer vergangenen Zeit eine so anrührende wie unterhaltsame Erzählung werden lässt.
    "Meine Großeltern hörten jeden Abend Musik. Sie hatten nur wenige Platten, die durch ihr immer und immer wieder Hören arg mitgenommen waren. Es begann eines ihrer abstrusesten Rituale, dem sie, egal, was um sie herum geschah, die Treue hielten. Sie zündeten Kerzen an und legten sich gemeinsam auf eine große Kaschmirdecke auf den Boden. Da lagen sie dann, wie Tote, die sich selbst aufgebahrt hatten. Das taten sie auch, wenn Besuch da war, sagten: 'Lasst euch nicht stören, aber wir hören jetzt unsere Musik!' Bestimmte Platten blieben immer an denselben Stellen hängen, und es dauerte lange, bis sie es merkten. Niemand wagte es, die in der Rille verhakte Nadel zu befreien. Sie dösten. Lagen auf dem Boden, hielten sich an den Händen, und die Gäste saßen da und sahen ihnen beim Musikhören zu."
    Allmähliches Erwachen aus einer großen Traurigkeit
    Grundiert werden solche sehnsuchtsvollen und vordergründig oft komischen Schilderungen im Roman von persönlichen Verlusten, nicht umsonst erinnert der Titel – ein Zitat aus Goethes "Werther" – an eine "entsetzliche Lücke": Der Tod naher Angehöriger, von denen Meyerhoff in den beiden vorangegangenen Büchern erzählt hat, überschattet die Münchner Jahre. Der dritte Teil des auf vier Folgen angelegten Buchprojektes "Alle Toten fliegen hoch" erweist sich zuletzt auch als eine schmerzlich-schöne Erzählung vom allmählichen Erwachen aus einer großen Traurigkeit und der langen Suche nach einer neuen Lebens-Ganzheit. Das Buch endet mit dem Auszug des diplomierten Schauspielers aus München und dem ersten Engagement in Kassel. Hier bringt Meyerhoff in der Doppelrolle als Regisseur und Schauspieler den "Werther" auf die Bühne und kann so "das Ringen mit den Dämonen der Entfremdung" sichtbar machen – das Ringen Werthers, das auch das eigene ist. Von Kassel wird Joachim Meyerhoff später nach Bielefeld und Dortmund weiterziehen. Vor dem Erfolg als gefeierter Burgschauspieler in Wien muss er eine lange, beschwerliche Tour durch die Provinz absolvieren. Im geplanten vierten Teil seiner Erinnerungen will Meyerhoff auch davon erzählen. Für den jetzt erschienenen Band, in dem es ihm bravourös gelingt, das Tragische und das Komische in eine schwebende Balance zu bringen, verdient er anhaltenden Applaus.
    Joachim Meyerhoff: "Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke"
    Kiepenheuer & Witsch Verlag, 348 Seiten, 21,99 Euro.